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Frankreichs zornige Studenten

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Noch vor wenigen Jahren hätte es niemand für möglich gehalten, daß Tausende zorniger junger Menschen wie einst revolutionäre Arbeiter trotz Verbotes der Manifestation und schwerer Strafandrohungen durch den Pariser Polizeipräfekten auf die Straße gehen würden, ohne sich von der Absperrung des Latinischen Viertels, der Aufbietung von 5000 Polizisten und Gendarmen, Schützenwagen und Wasserwerfern schrecken zu lassen. Nun ist die Krise der Universität und die schwere Not der intellektuellen Jugend Frankreichs in aller Munde; und man wird sich plötzlich dessen bewußt, daß die Verhältnisse — sollte ihnen nicht im letzten Augenblick radikal abgeholfen werden — den geistigen Bestand und damit die Zukunft der Nation gefährden könnten.

Es sei uns gestattet, aus der Fülle der Mißstände einige Beispiele zu nennen, um darzulegen, daß der offizielle Hinweis auf die „Wachstumskrise“ und die Berufung auf Versäumnisse der Vierten Republik, die gegen die für Ende 1963 erwartete demographische Welle der Nachkriegszeit keine technischen Vorkehrungen getroffen habe, den realen Tatbeständen nicht erschöpfend standzuhalten vermag. Denn immerhin weist das gegenwärtige Regime der Fünften Republik eine fünfjährige Kontinuität auf. Und in dieser Zeit hätte vieles geschehen können, um dem nunmehr unerträglich gewordenen Mangel an Gebäuden und Lehrkräften rechtzeitig vorzubeugen. Das neue technische Zeitalter mit seinen zahlenmäßigen Entwicklungen und strukturellen Wandlungen ist nicht über Nacht eingebrochen. Die Statistiker konnten nicht von der imponierenden Tatsache überrumpelt werden, daß sich die Zahl der französischen Studierenden innerhalb von 25 Jahren — von 1938 bis 1963 — verfünffachen und bei Beginn des Universitäts-jahres 1963 334.000 Studierende vor den Toren der Hochschulen erscheinen würden. Sie wissen auch, daß sich diese Zahl in wenigen Jahren erneut verdoppeln wird; und niemand macht sich darüber Illusionen, daß es unmöglich ist, 600.000 jungen Menschen die gleiche Ausbildung zu geben wie den 60.000 vor zwanzig Jahren.

Die letzten Zahlen weisen aus, daß ich 80 Prozent aller Maturanten zum Studium entschließen, von denen es 72 Prozent nicht gelingt, bis zum entscheidenden letzten Abschlußexamen durchzuhalten. Für viele mag der Verbleib „auf der Strecke“ durch mangelnde Fähigkeit bedingt sein — der Großteil scheitert aber an den katastrophalen Arbeitsund Lebensverhältnissen. Zu Beginn des neuen Studienjahres erschienen 6000 Propädeuten zur ersten Pflichtvorlesung. Der Hörsaal wies jedoch nur 2800 Plätze auf. Die Ausgesperrten revoltierten und erzwangen eine Zweiteilung der Vorlesung. Der Mangel an Lehrkräften ermöglicht jedoch nicht eine Verallgemeinerung dieses Präzedenzfalles. Alle Amphitheater der philosophischen Fakultät sind hoffnungslos überfüllt. Es ist zu einem gewohnten Bild geworden, daß Studenten an manchen Hörsälen vor Beginn der Kurse eine Stunde Schlange stehen, um einen Sitzplatz zu ergattern. Sie sitzen auf den Stufen, hocken auf den Tischen oder dem Fußboden und machen es durch die Zusammenballung dem Dozenten unmöglich, Erläuterungen an der Tafel zu geben. Das Erscheinen von 100 bis 200 Studenten zu praktischen Übungen und Seminaren verhindert jede fruchtbare Diskussion und den unerläßlichen Kontakt mit dem Professor. In allen Fakultäten mangelt es an Arbeitsräumen, und die Bibliotheken sind praktisch unbenutzbar geworden: Die Bibliothek der Sorbonne weist 600 Plätze für 33.000 Studierende auf. Manche Seminare haben sich in die Gaststätten geflüchtet. Uberhaupt haben sich die Cafes in den Straßen des Quartier Latin zum „Asyl der Studenten“ entwickelt — aber auch diese sind nicht minder überfüllt als die Hörsäle. Inmitten eines unbeschreiblichen Tohuwabohus und umgeben von Rauchschwaden drängen sich die jungen Leute wie die Heringe an den Tischen zusammen und versuchen zu arbeiten. Im Sommer konnte man sich in den Luxem-bourg-Garten begeben, doch dazu ist die Jahreszeit jetzt zu kalt. Um die Mittagszeit beginnt der Wettlauf zu den billigen Universitätsrestaurants, wo man wiederum eine halbe Stunde und länger warten muß, ehe man sich niedersetzen kann. Mit Rücksicht auf die Wartenden muß das Pensum des Essens so rasch wie möglich erledigt werden. Toulouse weist mit vorgesehenen zwölf Minuten pro Mahlzeit einen Rekord auf.

Erziehungsminister Fouchet erklärte kürzlich, daß zum Beginn des neuen Lehrjahres 42.000 zusätzliche Universitätsplätze geschaffen worden seien; doch die Nationale Studentenvereinigung behauptet demgegenüber, es seien nur 22.000 neue Plätze. Von niemandem wird bestritten, daß es allein in Paris an 10.000 Zimmern für Studenten mangelt. Die Stipendien sind dünn gesät. Aber selbst die Glücklichen, die in ihren Genuß kommen, können davon nicht leben. Sie betragen im Durchschnitt 2000 fFr. (rund 1600 DM) für das Studienjahr. Wer nicht von den Eltern unterstützt werden kann, ist gezwungen, sich nach einem zusätzlichen Verdienst durch Stundengeben umzusehen oder Beschäftigung als Tellerwäscher, Babysitter oder Chauffeur zu finden.

Der Massenandrang dieses Jahres ermöglicht den frischgebackenen Studenten keine sachgemäße Orientierung auf die einzelnen in Frage kommenden Lehrfächer. Oft entscheidet man sich nach äußeren, technischen Gesichtspunkten, die mit persönlichen Neigungen kaum etwas zu tun haben. So erklärt man sich den hohen Anteil der Studierenden an der medizinischen (43.500 Studierende) und philosophischen Fakultät (96.000 Studierende) mit der ungenügenden Vorbereitung auf wissenschaftliche Fächer (Mathematik, Physik, Technik) an den höheren Schulen. Aber es gibt auch weit drastischere Überlegungen. So hat bei Semesterbeginn ein Student auf die Frage, für welche Fakultät er sich entschieden habe, wörtlich geantwortet: „Vielleicht Philosophie, vielleicht Geschichte. Ich weiß noch nicht genau. Gestern hat man mir erzählt, daß die Hörsäle der juristischen Fakultät nicht so schrecklich überfüllt sein sollen. Wenn das stimmt, werde ich zur Juristerei umschwenken ...“ (Jus und Wirtschaftswissenschaft weisen zusammen 52.000 Studenten auf.)

Der bekannte Publizist und Wissenschaftler Professor Raymond Aron hat anläßlich des studentischen Aufbegehrens kürzlich im „Figaro“ — also in einer der Regierung nicht unfreundlich gesonnenen Zeitung — einen vielbeachteten Artikel veröffentlicht, in dem die Universitätspolitik des Erziehungsministers Fouchet scharf angegriffen wird. Wenn der Minister in seinen Reden immer wieder behaupte — schrieb Raymond Aron —, daß die Studentenunruhen und der einwöchige Universitätsstreik politischen Zwecken diene, so müsse das zurückgewiesen werden. Der Zorn der Studenten habe mit Politik nichts zu tun. Für die Politisierung der Universität seien die Minister in stärkerem Ausmaß verantwortlich als die Studenten oder die Professoren. Sowohl die Studierenden als auch die Lehrkräfte hätten sich mit dem Streik einverstanden erklärt. Denn der ewige Vergleich Fouchets zwischen der Fünften Republik und den Jahren vor 1958 hätte die Opposition aller auf den Plan gerufen. Mit der Polemik gegen das „abgeschaffte Regime“ könne die Krise nicht gelöst werden.

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