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Frédéric Beigbeder nimmt sich kein Blatt vor den Mund. Dieses Mal geht es um Literatur.

Im Sommer 1999 legte die französische Tageszeitung Le Monde einer ihrer Nummern einen Fragebogen bei. Buchhändler und Literaturkritiker hatten eine Liste von 200 Büchern zusammengestellt, aus denen die Leser die 50 wichtigsten Werke des 20. Jahrhunderts auswählen sollten. 6.000 Franzosen unterzogen sich der Mühe, den Fragebogen ausgefüllt zurückzusenden. Frédéric Beigbeder, Jahrgang 1965, der Schrecken der alteingesessenen Literaturkritiker, kommentierte daraufhin die Wahl seiner Landsleute. Das respektlose Buch "Letzte Inventur vor dem Ausverkauf" ist jetzt auf deutsch erschienen. Kaufen Sie es, lesen Sie es. Es wird Sie für alles schulische Zwangslesen entschädigen, denn der junge Franzose, selbst Autor, hat in seiner frechen Schreibklaue ein großes Staubtuch, mit dem er Meisterwerke ohne Scheu von ihren Sockeln wischt. Unter Einsatz von Waffen, die normalerweise in der Musik- und Filmbranche eingesetzt werden (harter Schnitt, Gags in der Anfangs- und Schlusssequenz, eingängige Erkennungsmelodie) geht er munter ans Werk. Der Anfangs-Gag vieler der 50 "Buchvorstellungen" ist eine pointierte Beschwerde: Wieso hat der ... diesen Platz und nicht ich, Frédéric Beigbeder? Dann folgen einige Gedanken zum Thema und zur Schreibweise - unvoreingenommene, von keiner "Wissenschaft" abgesegnete, frische, wie sie jemandem kommen, der ein Buch zum ersten Mal liest, was bei Beigbeder, wie er selbst zugibt, nicht selten der Fall war. Abgeschlossen wird jeder Fall mit eigenem scharfem Senf. Zwar fragt der Lese-Hitzkopf in seiner Einleitung: "Was suchen wir in den Büchern? Genügt unser Leben uns denn nicht? Werden wir nicht genug geliebt? Sind unsere Eltern, unsere Kinder, unsere Freunde und dieser Gott, von dem man uns erzählt, in unserem Leben nicht präsent genug? Was bietet uns die Literatur, was alles übrige nicht zu bieten hat? Ich habe keine Ahnung." Hier ist F. B. das einzige Mal zu bescheiden. Längst weiß er es, zitiert er doch seinen großen Landsmann Marcel Proust: "Das wahre Leben, das endlich entdeckte und aufgehellte, das einzige infolgedessen von uns wahrhaft gelebte Leben, ist die Literatur." Ein maßloser Anspruch? Lesende wissen längst um das Geheimnis, dass Meisterwerke das Leben bereichern, eigentlich erst verständlich machen, beglücken, erschüttern, aufrütteln etc.

Neben der Überzahl von Franzosen (no na!) behaupten sich einige Engländer (Agatha Christie, D. H. Lawrence, Aldous Huxley, George Orwell), wenige US-Autoren, kein einziger Spanier: Nachbarn lieben sich oft nicht einmal literarisch). Wo nach Meinung Beigbeders seine Landsleute in ihrer Wahl daneben gegriffen haben, scheut er sich nicht, sie für ihren minderwertigen Geschmack abzukanzeln. Sein Kommentar zu einem feministischen Buch der Lebensgefährtin Sartres, Simone de Beauvoir: "Ich sage es offen: ich persönlich finde, dass der Feminismus die einzige gelungene Utopie des 20. Jahrhunderts ist. Ich bin wirklich froh, dass meine Verlobte arbeiten geht; so habe ich sie nicht den ganzen Tag am Hals, und außerdem bringt sie auch noch Kohle nach Hause." Um politische Korrektheit schert sich der Herr aus Paris nicht. Und um hehren Respekt vor Meisterwerken ebenso wenig: "Die Literatur dient einzig und allein dazu, uns eine Gebrauchsanweisung für das Leben zu geben." 50 Gebrauchsanweisungen, ist das nicht ein bisschen viel? Victor Hugo sagte: "Meisterwerke fressen einander ebenso wenig auf wie Wölfe." Bleibt nur noch, die Nummer 1 der demokratischen Wahl in Frankreich zu verkünden: "Der Fremde" von Albert Camus aus dem Jahr 1942. Schon gelesen? Es ist ein extrem kurzes Meisterwerk mit der Devise, dass das Leben "umso besser gelebt wird, je weniger Sinn es hat."

Letzte Inventur vor dem Ausverkauf Die fünfzig besten Bücher des 20. Jahrhunderts.

Von Frédéric Beigbeder

Deutsch von Julian Gräbener-Müller

Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 2002 174 Seiten, geb. e 17,40

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