Freie Poesie als leichtfertige Theologie

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"Dauernd wurden mir meine Rezensionssätze aus den Händen geschlagen, denn die Verse Wührs bieten keinen Halt", schrieb Wendelin Schmidt-Dengler 2007 in der FUR-CHE, nachdem er sich durch über 300 Seiten "Dame Gott" gelesen hatte. Ja, Paul Wühr machte es selbst lyrikgeschulten Germanisten nicht leicht. Und doch schenkte er Leichtigkeit, mit seinen satzzeichenlosen Gedichten, mit seiner so schwebenden Syntax. Auszulesen waren und sind Wührs Texte jedenfalls nicht. Bei immer neuen Leseanläufen tut sich Neues auf und nicht nur Lesegewissheiten zerbröseln. Geschlossene Poesie? Keinesfalls. Dogmatik? Schon gar nicht. Freiheit war ihm die Poesie und mit ihr wusste Wühr umzugehen wie kaum ein anderer. Keine Sätze schrieb er - die würden ja behaupten -, sondern eben Poesie. Diese war ihm Lebensmittel: "Man sollte sie den Menschen auf ärztliche Verschreibung verabreichen", sagte er in einem FURCHE-Interview.

"Poesie gründet nichts. Begründen will sie schon gar nichts. Mit ihr ist also im wahrsten Sinne des Satzes kein Staat zu machen, und schon gar keine Theologie", stellte Wühr denn auch in seinem Essayband "Zur Dame Gott" (Droschl 2009) fest, und doch erzählte er bei anderer Gelegenheit: Sein Bruder, der Theologe, habe ihm immer bewiesen, was er da gedichtet habe, sei alles Theologie. Allerdings, aufgepasst: In Wührs Lyrik wirbelt eine leichtfertige, eine unverschämte, eine lustvolle Theologie, eine, um den Autor selbst zu zitieren, die "sowohl karnevalesk ist als auch beinahe wieder ernst." Hierarchien werden gestürzt, und der Umsturz, die Umwandlung macht auch vor dem Herrgott nicht Halt. "Wo ist gesagt, dass Gott männlich sein muss? Die Geschlechtsumwandlung, die hier vor sich geht, ist eine geistige Handlung. So einfach ist das." Dachte und schrieb Paul Wühr und flugs wurde aus dem Herrgott eine "Dame Gott", die durch Geschichte und Geschichten, Philosophie und Religion fegt und allerhand Fragen hinterlässt, auch in Bezug auf Sprache. "Meine Dame tanzt weg vom Ernst, vom Hohen, vom Furchterregenden, vom Gericht (im metaphysischen Sinn), ist deshalb vulgär und gar nicht auserlesen."

"Eine Anstrengung, gewiss", schrieb Schmidt-Dengler, "aber wem das nicht behagt, der lasse die Finger davon. Der Schaden ist auf seiner Seite." Seit vielen Jahren lebte der am 10. Juli 1927 in München geborene Lyriker am Trasimenischen See. Am 12. Juli ist er dort, in Passignano sul Trasimeno, kurz nach seinem 89. Geburtstag gestorben.

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