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Freudenfeuer und Bruderzwist

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Was dem einen sin Uhl, ist dem andern sin Nachtigall. Während sich die Algerier muselmanischer Religion begreiflicherweise mit kaum gezügel-tem Temperament der endlich gewonnenen politischen Unabhängigkeit freuen, packen die Algerier europäischer Herkunft weiterhin mit unverhohlener Bitterkeit ihre Koffer und belagern die Flugplätze von Algier und Oran. Aber was noch vor wenigen Tagen unglaublich anmutete, ist zur Tatsache geworden: Das Referendum zur Unabhängigkeit Algeriens verlief ohne jeden ernsten Zwischenfall. Der von der provisorischen Exekutive in Rocher Noire vermittelte Waffenstillstand zwischen der nationalen Befreiungsfront und Susinis geheimer Armeeorganisation schien diesem schwergeprüften Land zu guter Letzt doch noch den Frieden gebracht zu haben.

Als Ferhat Abbas vor sechzehn Jahren die völlige Integration Algeriens in den französischen Staat forderte, gestand er zugleich, weder in der Geschichte noch auf Grabsteinen jemals den Spuren eines algerischen Staates begegnet zu sein. Doch der blutige und tränenschwere Gang der Ereignisse hat diesen Staat geradezu erzwungen. Abderhamane Fares, der Präsident der provisorischen algerischen Exekutive, durfte die seit 1830 von Frankreich ausgeübte innere und äußere Souveränität in der Überzeugung aus den Händen de Gaulles entgegennehmen, daß der ihm anvertraute junge Staat eine vielleicht noch etwas vage, aber jedenfalls bereits leidenschaftlich-intensive Idee von sich selbst hat. Und wenn noch Zweifel bestanden hatten, so waren sie von dem wuchtigen und praktisch einstimmigen Ja von sechs Millionen algerischen Wählern jeglicher Provenienz für die nationale Unabhängigkeit und die Zusammenarbeit mit Frankreich förmlich vom Tisch gefegt worden.

Das Resultat des Referendums hat jedoch im Grunde niemanden überrascht. De vom FLN über die Massen ausgeübte Kontrolle und die einheitliche Japarole, der sich schließlich 1; auch die OAS angeschlossen hatte ließen die ungewöhnlich hohe Be teiligung von rund 90 Prozent ebensi wie den positiven Ausgang der Be fragung erwarten. Als erfreuliche Über raschung stellte sich dagegen die An teilnähme der europäischen Minoritä heraus, die sich zwar zum großen Tei der Stimme enthielt, aber dennocl zahlreicher zur Urne ging, als man die; angenommen hatte. Allerdings stimm ten viele von ihnen Ja, ohne sich ir der Entschlossenheit zur Auswande rung beirren zu lassen. Anderen ginj es lediglich darum, sich den Stempe „hat gestimmt“ in die Ausweispapier« setzen zu lassen, denn sie befürchtet Repressalien von Seiten der Behörden Frankreich kann nun aufatmen. Di« anhaltende Krise gefährlicher fiebrige: Anfälle scheint überwunden. Die be-fürchtete Bartholomäusnacht in Alge rien blieb aus. Dem verbohrten Ressentiment der Rechtsparteien ist die Spitze genommen. Im Laufe der nächsten drei Jahre wird sich die Armee aus diesem Hexenkessel absetzen, der ihr zwar keine Niederlage, wohl aber eine schwere Gewissenskrise gebracht hat. Der Hochkommissär, Christian Fouchet, wird durch den ersten französischen Botschafter in Algier, Professor Jean-Marcel Jeanneney, ersetzt. Zwischen Algerien und Frankreich werden sich die normalen zwischenstaatlichen Beziehungen anknüpfen, denen die Vereinbarungen von Evian ein besonderes Gewicht verleihen.

Frankreich kann aufatmen, aber es darf sich im eigenen Interesse nicht von seiner fortdauernden Verantwortung für den jungen Staat lossagen. Schneller, als erwartet, ist im Schöße des FLN ein Konflikt ausgebrochen, der die Belange Frankreichs in Algerien entscheidend berührt. Das ist eine Mahnung für Paris, sich den neuen Aufgaben gewachsen zu zeigen und bei aller Zurückhaltung in Nord-afrika eine ordnende Hand zu bewahs- ren. Das sogenannte Degagement kann nur als ein Engagement in gewandelte! Form einen politischen Sinn haben.

Der Zwist im Lager der algerischen Nationalisten ist publik geworden, als Ben Bella am Flugplatz von Tunis den marokkanischen Minister für afrikanische Angelegenheiten offiziell verabschiedete, plötzlich mit langen Schritten auf eine leere ägyptische Maschine zuging, die algerische Fluchts- linge aus Kairo transportiert hatte, und kommentarlos nach einem unbestimmten Ort abflog. Für die algerische Exilregierung bestand darnach keine Chance mehr, die Meinungsverschiedenheiten zu vertuschen. Die Dementis zum angeblichen Rücktritt des Rebellenveterans und Benbellisten Mohamed Khider waren widerlegt.

Den Grund zu dem Zerwürfnis glaubte man anfänglich in den Vereinbarungen zwischen dem FLN und der OAS vom 17. Juni sehen zu müssen. Tatsächlich sitzt der Stachel jedoch weit tiefer. Die Diskrepanzen betreffen nicht weniger als die grundsätzliche Entscheidung, ob Algerien mit oder gegen Frankreich geschaffen werden solle. Schon einmal — nämlich noch als Gefangener in Frankreich — hatte Ben Bella die algerische Exilregierung durch seine Hungerkur bestreikt, weil er ihre Überlegungen hinsichtlich Evians nicht billigte. Diese Gegensätze sind nie ausgeräumt, sondern bloß hinausgeschoben worden. Sie wurden akut, als sich Algerien mit Riesenschritten der Unabhängigkeit näherte und Frankreich sich anschickte, seine Souveränität abzutreten. Die Gelegenheit zu einer entscheidenden Aussprache ergab sich im Verlauf der Tagungen des Nationalrats der algerischen Revolution Anfang Juni in Tripolis. Nur durch eine überstürzte Abreise konnte damals Ben Khedda verhindern, daß sich die in der Mehrheit befindliche extreme Gruppe um Ben Bella mit der Forderung auf eine Umbildung des Direktoriums durchs- setzen konnte, was dem für die Einigung von Evian verantwortlichen gemäßigten Flügel das politische Steuer aus der Hand genommen hätte. Wenn man den Umstand berücksichtigt, daß der Nationalrat der algerischen Revolution die höchste Instanz des FLN ist, darf man sich also heute füglich fragen, wer eigentlich gegen wen rebelliert.

Ben Khedda hat versucht, mit einigen energischen Worten und raschen Verhaftungen der Drohung eines Militärputsches zuvorzukommen. Er ist früher, als geplant, mit seinen Kollegen in Algier eingetroffen, um zusammen mit der provisorischen Exekutive das Heft fest in die Hand zu nehmen. Dies verletzt zwar den Buchstaben der Vereinbarungen von Evian, aber es rettet vielleicht ihren Geist, denn die Gefahr eines militärischen Umsturzes zugunsten der radikalen Revolutionäre um Ben Bella ist durchaus noch nicht behoben. Sein Einfluß auf die in Tunis und Marokko stehenden Truppen der nationalen Befreiungsarmee bleibt beträchtlich, wobei angemerkt werden muß, daß es sich dabei weniger um militärische Einheiten als um besonders politisch geschulte Kader des FLN handelt. Im Inneren Algeriens findet Ben Bella namentlich bei der revolutionären Jugend Anklang. Zu seinem Vorteil wirken sich vor allem die emotionellen Momente der panarabischen Bewegung und des Ressentiments gegenüber Frankreich aus. Auch die Truppen in gewissen Militärzonen des FLN im Inneren Algeriens — hauptsächlich im Aures und in der Sahara — neigen auf Ben Bellas Seite. Die Versöhnungsversuche des ägyptischen Ministers Ali Sabri im Verein mit Belkassem Krim scheinen zu keinem Kompromiß geführt, sondern den Konflikt bloß verzögert zu haben.

Schon am ersten Tag der algerischen Unabhängigkeit sah sich Frankreich in einer schwierigen Situation. Durch die beabsichtigte Öffnung der Grenzbefestigungen erhielten die Ben-Bellafreundlichen Truppen freien Zugang nach Algerien, was die Texte von Evian ernstlich gefährden könnte. Nach kurzem Zögern enthielt sich Paris jedoch jeden Eingriffs in die inneren Angelegenheiten Algeriens und gab die Grenze frei.

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