Werbung
Werbung
Werbung

Stippvisite in einer fremden Welt.

Der Weg in die Vergangenheit führt über den Umweg der Geschichte oder die Abkürzung von bekannten Namen. Ein Beispiel liefern die Erinnerungen von Anna Freud-Bernays, die sicherlich nicht von Interesse wären, wenn sie nicht die Schwester Sigmund Freuds gewesen wäre. Der Abkürzer ist abgesteckt und der Besuch kann beginnen. Wann? In der Mitte des 19. Jahrhunderts. Der Abstecher ist jedoch mehr als eine Stippvisite, denn Anna FreudBernay verstarb erst 1955 und lebte in Amerika zu einer Zeit, als der Kontinent fern und die Titanic noch nicht oder gerade gesunken war. Dass die Verbindung zwischen Anna und dem prominenten Bruder mehr als lose war - und dies nicht allein aufgrund der räumlichen Distanz -, sei angemerkt. Einige interessante Begegnungen über den Frühbegabten, der immer ein eigenes Zimmer hatte, während die fünf Schwestern auf zwei Räume aufgeteilt waren, sind jedoch garantiert. "Seine kindliche Klugheit wurde immer besprochen, doch blieb er stets sehr bescheiden." Zugunsten des Lesens und Arbeitens verzichtet Sigmund selbst auf die Abendmahlzeiten.

Dies alleine würde jedoch die Lesereise nicht rechtfertigen. Zwei Dinge sind es, die an diesen Erinnerungen faszinieren. Die Lebendigkeit, mit der ein gänzlich fremder Lebensstil geschildert wird mit Ereignissen, die so weit zurückliegen, dass es nur schwer vorstellbar ist, dass Zeitzeugen auch bis fast in die unmittelbare Gegenwart noch gelebt haben, sei dies nun der Ringtheaterbrand, der Krieg 1870 oder die Weltausstellung 1873 und nicht zuletzt die Auswanderung nach Amerika im Jahr 1892, das Fußfassen in der fremden Umgebung in New York. Ihr Mann Eli Bernays reüssiert an der Produktenbörse. Während die Familie in der Heimat vor dem Bankrott gestanden war, stellt sich der Wohlstand sehr rasch ein, so dass ab der Jahrhundertwende Sommerreisen von mehreren Wochen nach Europa für die Ehefrau mit den Kindern und ausgedehnte Kuraufenthalte möglich sind.

Wie selektiv Erinnerungen sein können, wird erst durch das Nachwort von Christian Tögel bewusst, wo auf die nicht gerade einfache Persönlichkeit des Mannes von Anna Freud hingewiesen wird, die langen Reisen und versteckte Andeutungen würden nur schwer einen Rückschluss darauf ermöglichen. Dieses Beispiel liefert somit auch eine Warnung zur Wachsamkeit bei der Lektüre von anderen Lebensgeschichten, um die versteckten Botschaften zu entdecken. Das Hauptaugenmerk von Anna Freud-Bernay galt der Familie. Trotzdem sind Einblicke in das Leben einer deutschen Kolonie in New York, wo Literatur, Musik und Philosophie gepflegt wurde, und der Bruch, der durch den Ersten Weltkrieg ausgelöst wurde, möglich. Zum Schluss verfestigt sich aber auch die Erkenntnis, dass mancher Abkürzer schnell ist, aber das Ziel nur als Ahnung erreicht wird.

Eine Wienerin in New York.

Die Erinnerungen der Schwester

Sigmund Freuds

Von Anna Freud-Bernays

Aufbau Verlag, Berlin 2004

272 Seiten, geb., e 20,50

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung