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FREUNDIN GROSSER MÄNNER

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„Du Wahrsagerin, mit Deinem großen Wissen vom Menschlichen“, schreibt Rilke an diese den großen „Damen“ der Antike vergleichbare femme fatale des Fin de siecle und der zwanziger Jahre, der ihre Zeitgenossen mit Enthusiasmus und Abneigung begegneten. Gefeiert und umworben, von den Epochemachern des Geistes und der Kunst bis zur Besessenheit geliebt, von anderen aber, vornehmlich ihren Geschlechtsgenossinnen, gehaßt und verleumdet, wirkt diese geistreiche Abenteuerin in unserer polierten Epoche wie eine Petarde. Wenn Intellekt und Intuition, Religiosität und Rebellion, Mut und Demut, gepaart mit Warmherzigkeit und weiblichem Charme, als Ingredienzien für Persönlichkeit und Größe aufzufassen sind, dann geben diese Attribute ein vollkommenes Bild jener außergewöhnlichen Frau. Daß Lou, wie man Ljola nannte, eine führende Rolle im Leben von Nietzsche, dem geistigen Erdbeben des 19. Jahrhunderts, von Rilke, dem Rufer zur Heimkehr zu den Ordnungen, von Freud, dem Wissenden um die Geheimnisse der Seele, gespielt hat, bezeugt die Polyphonie ihres Wesens, das die Genialität dieser Männer inspirierte. Außergewöhnlich war auch ihre 43 Jahre währende, unvollzogene Ehe mit dem 15 Jahre älteren Friedrich Carl Andreas, den sie um sieben Jahre überlebte. Das auf dem Hainberg bei Göttingen gelegene Haus, das sie mit ihm gemeinsam bewohnt hatte, verließ sie in den Stürmen des nazistischen Aufstandes trotz der Warnungen ihrer Freunde bis zu ihrem Tode nicht. Für das Hitlerregime, das Nietzsche zum Schutzheiligen des Dritten Reiches proklamiert hatte, mußte es ein äußerst beunruhigender Umstand sein, daß diese literarische Bohemienne von Berlin, Paris und Wien Dokumente wie Briefe Nietzsches und jenes schockierende Luzerner Photo besaß, für das der Philosoph in übermütiger Laune selbst die Gruppierung getroffen hatte: Es zeigt, wie Lou von einem Leiterwagen aus über ihn und ihren gemeinsamen Freund Paul Ree die Peitsche schwingt.

In Göttingen galt Lou trotz ihres anspruchslosen und menschenfreundlichen Wesens durchaus nicht als tadellose deutsche Professorenfrau. Diesen Kreisen abgewendet, lebte sie, die „Sibylle vom Hainberg“, die „Hexe vom Hainberg“, von Gerüchten umgeben, im Sinne ihres Leitspruches „Alles dürfen — nichts bedürfen“ ihr eigenes Leben. Von einer Neugierigen einmal nach der Ursache ihrer Frühlingsreiselust befragt, antwortete Lou: „Es ist Frühlingsfleber, Frau Professor, das besondere Gefühl, das um diese Zeit über uns kommt. Leider habe ich es das ganze Jahr.“

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Ljola Salome kam am 12. Februar 1861 als Tochter des russischen Generals Gustav von Salome im pompösen Zentrum des zaristischen Petersburg zur Welt. Der Vater stammte von französischen Hugenotten aus Avignon ab, die , Mutter hatte norddeutsche und dänische Ahnen. Das eigenwillige und aufständische Mädchen fand früh den schicksalhaften Weg zu einem Mann, dessen liberale Ideen, dessen weltmännisches Auftreten sie faszinierten. Es war der 43jährige Hendrik Gillot, Prediger an der holländischen Gesandtschaft in Petersburg. Sie sah diesen bedeutendsten protestantisch-unorthodoxen Kanzelredner der Stadt erstmalig in der Kirche und näherte sich ihm mit einer Spontanität, die ihn bezauberte. Zunächst wurde die Achtzehnjährige ohne Wissen ihrer Eltern Schülerin Gillots, der ihren hervorragenden Intellekt methodisch auszubilden begann. Er unterwies sie in Religionswissenschaften und Philosophie. Als er ihr aber eines Tages seine Liebe gestand und sie, die Scheidung seiner Ehe bereits planend, um ihre Hand bat, verließ das zwischen Unschuld und früher Reife irrende Mädchen den mit mystischer Übersteigerung geliebten Lehrer, verließ Petersburg. „Mit einem Schlage fiel das von mir Angebetete mir aus Herz und Sinnen ins Fremde. Es ward zu etwas, das eigene Forderungen stellte — etwas, das nicht nur den meinigen keine Erfüllung brachte, sondern diese im Gegenteil bedrohte“, heißt es in Lous „Lebensrückblick“. — Nachdem mit Hilfe Gillots die Ausreiseschwierig-keiten überwunden worden waren, zog Lou mit ihrer Mutter zu Studienzwecken nach Zürich. Der Grund für die anfängliche Weigerung der Behörden, Lou einen Paß auszustellen, lag in ihrem Austritt aus der Kirche. Diesen Vollzug rechtfertigt die Gottsucherin, deren Spannungsbereich immer im Religiösen lag, nicht etwa mit ihrem Wahrheitsfanatismus; vielmehr sei es „ein triebhaftes, nicht zu überredendes Muß“ gewesen. Ihr Gedicht „Lebensgebet“ gibt Zeugnis von einem durch den Gottesverlust „beraubten“ Leben: „Hast du kein Glück mehr übrig mir zu geben, wohlan! noch hast du deine Pein...“ Dieses Gedicht bezeichnet Nietzsche in „Ecce homo“ als die „erstaunliche Inspiration einer jungen Russin ... Wer den letzten Worten des Gedichtes überhaupt einen Sinn zu entnehmen weiß, wird erraten, warum ich es vorzog und bewunderte: sie haben Größe.“

Die Ferne konnte Lou von Gillot nicht trennen. Er hatte ihr während einer Zeremonie den Namen Lou gegeben, weil er das russische Ljola schwer aussprechen konnte, und dieser Name war ihr geblieben. Ihre Gefühle zu Gillot schlössen, wie sie selbst sagte, jede andere Liebe aus, und sie war trotz ihrer freien Lebensführung noch mit 30 Jahren in jenem Mädchentum, wie sie Gillot verlassen hatte. „Der Mensch, der die Gewalt besaß, uns glauben und lieben zu machen, bleibt zutiefst in uns der königliche Mensch auch noch als späterer Gegner“, diese Worte stehen im „Lebensrückblick“.

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„Von welchen Sternen sind wir hier einander zugefallen?“ Das waren die Begrüßungsworte Nietzsches bei seiner bedeutungsvollen ersten Begegnung mit Lou. Es war in Rom im Jahre 1882. Sie erschien ihm als „das auserlesene Wesen, auf das er schon immer gewartet hatte“. Die ersten Wochen sprachen sie sich „förmlich tot“. „Seltsam, daß wir unwillkürlich mit unseren Gesprächen in die Abgründe geraten, an jene schwindelnden Stellen, wohin man wohl einmal einsam geklettert ist, um in die Tiefe zu schauen. Wir haben stets die Gemsenstiegen gewählt, und wenn uns jemand zugehört hätte, er würde geglaubt haben, zwei Teufel unterhielten sich.“

Nietzsche wurde der Dritte im Freundschaftsbund zwischen Lou und Paul Ree, einem jungen, hochbegabten Philosophen, den Nietzsche trotz ihrer gegenseitigen Rivalität zum Boten seines' Heiratsantrages an Lou machte. Sie empfand für den einsamen Wanderer Nietzsche Bewunderung und Verehrung, beschied jedoch auch seine Werbung mit der Begründung einer grundsätzlichen Abneigung gegen die Ehe abschlägig. Die für ihn so qualvolle Zeit der vergeblichen Kämpfe um die geliebte Frau wurde durch die feindselige Einstellung seiner Angehörigen gegenüber Lou noch verschlimmert. Der Schmerz über die Aussichtslosigkeit seiner Hoffnungen trieb ihn, wie Thomas Mann sagt, „durch Krankheit ins Tödlich-Geniale emporgetriebenen Geist“ in die Einsamkeit und damit in eine ungeheuer schöpferische Epoche. Anfang Februar 1883 erschien der erste Teil des Zarathustra, der Entwurf des „Ubermenschen“, als Produkt einer Arbeit von wenigen Tagen, diktiert vom inneren Aufruhr gegen das Schicksal. Auf Aussagen über den Zarathustra aus Nietzsches Bekanntenkreis hinweisend, schreibt der Biograph H. F. Peters, daß Lou direkten Anteil daran habe, Nietzsche zum „philosophisch-religiösen und moralisch-prophetischen Ausdruck eines Ersatzes für Religion und Moral“ gebracht zu haben. Lou jedoch verdankt dieser kurzen, unsagbar tragischen Freundschaft und dem plötzlichen Ruhm Nietzsches ihren Aufstieg als Schriftstellerin. Ihr Buch „Friedrich Nietzsche in seinen Werken“ erschien 1894 in Wien.

Bei dem überwältigenden Erlebnis der Bayreuther Festspiele lernte Lou durch ihren vertrauten Freund Ree, den „Bruder Ree“, Richard Wagner und seinen Kreis kennen und hatte auch Zutritt zu „Parsifal“ und den Wahnfried-Abenden. Diese Verbindung mit Ree reichte bis in die Zeit von Lous Verlobung mit dem Berliner (später Göttinger) Professor der Orientalistik Friedrich Carl Andreas. Die Fortführung dieser Partnerschaft hatte Lou gegenüber Andreas als Bedingung für ihre Heirat gefordert; sie wurde von ihm auch akzeptiert, nicht aber vom Schicksal. Paul Ree ging für immer. Er verunglückte in den Bergen. Sein Tod blieb ebenso unaufgeklärt wie die Motive von Andreas' Selbstmordversuch am Vorabend seiner Verlobung mit Lou. Trotz allem wurde die Ehe geschlossen, und zwar im Jahre 1887. „Wenn man erwägt“, schreibt Lou im „Lebensrückblick“, „um wie viele Jahre erfahrener er war als ich,, und um wie vieles ich kindlich unbefangener geblieben war als Altersgenossinnen von mir, dann erscheint sein Glaube und seine unbeirrbare Sicherheit nahezu monströs.“ In dieser ihrer Autobiographie zeichnet Lou alle Ereignisse mit weiser Einsicht und ohne die geringste Schärfe gegen andere. Alles Gesagte endet trotz Aufdeckung des „Elementarischen und Intimen“ in den Begriff des „Festgelegtseins auf ein unumstößlich Wirkliches, Vorhandenes“. Eingeprägt blieb ihr der Augenblick, da Andreas zu ihr sagte: „Ich kann nicht aufhören zu wissen, daß du meine Frau bist.“

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Als der 21jährige Rilke im Mai 1897 der durch ihre Nietzsche-Interpretationen, durch Publikationen über Religion, Philosophie und Literatur sowie durch ihre Romane „Im Kampf mit Gott“, „Ruth“, „Fenitschka“ und andere bekannt gewordenen Autorin, die er schon vorher mit Gedichten anonym beschenkt hatte, in München seine erste Aufwartung machte, ahnte er nicht, daß er hier seinem Schicksal in die Arme laufen sollte. Schon wenige Wochen später schreibt er in inbrünstiger Verehrung an die mütterliche Frau: „Durch Dich will ich die Welt sehen...“ — Der innigen Verbundenheit der ersten Jahre folgte ein Reigen der Trennung und Wiederkehr. Es kam die Zeit der Briefe, jene „unsäglich gute, große, gebende Zeit“, wie sie Rilke nennt, es kamen gemeinsame Reisen, auch zu dritt mit Professor Andreas. In ihrer russischen Heimat, die der Dichter auch als die seine, als seine „Urheimat“ preist, und deren Tore ihm auch durch die Gestalt Tolstojs erschlossen wurden, erlebt er das visionäre Aufdämmern seiner Kindheit und den Höhepunkt seines Lebens: „Mir war ein einziges Mal Ostern.“ Er, der nach Paul Valery „von all den wunderbaren Ängsten und allen Geheimnissen des Geistes heimgesucht war“, fand in seiner souveränen, „ebenbürtigen“ Freundin das entscheidende Formungselement seiner jungen Jahre. Ihr widmete er das „Florenzer Tagebuch“ des Jahres 1898, in dem es heißt: „Meine Kämpfe sind längst Deine Siege geworden, darum bin ich manchmal so klein vor Dir...“ Auch die aus jener Zeit stammende Liebeslyrik „Dir zur Feier“ und „Mir zur Feier“ gilt Lou Andreas-Salome. Rilkes Drang nach geistigem Wachstum, die Angst, seine „Fort-

Schritte könnten im Kreise laufen“, sprechen aus den römischen Briefen des Jahres 1903 an Lau:

„Nur daß mein Mund, wenn er ein großer Strom geworden ist, einmal münde in Dich, in Dein Hören und in die Stille Deiner auf getanen Tiefe — das Ist mein Gebet... Wenn mein Leben jetzt auch gering ist und mir oft und oft erscheint wie ein unbestelltes Feld, auf dem das Unkraut Herr ist und die Vögel des Zufalls, die wählerisch in seinem ungepflegten Samen suchen — es wird erst sein, wenn ich es Dir erzählen kann, und wird so sein, wie Du es hörst!“

Und gibt es eine glutvollere mystische Strophe als jenes Gedicht im „Stundenbuch“, das ihr, nach der das Verlange dieses Einsamen so groß war, gewidmet ist.

Lösch mir die Augen aus: ich kann dich sehen, Wirf mir die Ohren zu: ich kann dich hören, Und ohne Füße kann ich zu dir gehn, Und ohne Mund noch kann ich dich beschwören. Brich mir die Arme ab, ich fasse dich Mit meinem Herzen wie mit einer Hand, Halt mir das Herz zu, und mein Hirn wird schlagen. Und wirfst du in mein Hirn den Brand, So werd ich dich auf meinem Blute tragen. Im Februar 1922 berichtet Rilke voll Jubel und Dank an Löu, die mittlerweile Schülerin und Mitarbeiterin Sigmund Freuds geworden war, die Vollendung der „Duineser Elegien“, deren Botschaft wie beim „Comet“ auf Liebe und Tod beruht. Auf seinem Totenbett ließ Rilke für die Freundin die umstrittenen und vielgedeuteten Worte niederschreiben: „Aber die Höllen“, womit der unter freiwilligem Verzicht auf Betäubung qualvoll Sterbende vielleicht vermeiden wollte, den mystischen Tod des Stundenbuches, den „eigenen Tod“, mit diesen Qualen zu identifizieren. Am 29. Dezember 1927 war das Ende gekommen. Der frühe und einsame Tod Rilkes endete auch die Gezeiten dieser beiden geheimnisvollen Seelen. Ein Jahr später publizierte Lou das Buch „Rainer Maria Rilke“ und den Aufsatz „Rilke in Rußland“.

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Bei Kierkegaard, Jaspers und Heidegger fand Lou ihre eigene Erkenntnis bestätigt, daß die Angst dem Menschen Einblick gibt in seine authentische Existenz. Die schweren seelischen Erschütterungen, die sie bei Nietzsche, Rilke und anderen Freunden miterlebte, seelische Grenzsituationen und religiöse Phänomene führten diese moderne Aspasla, die sich eingehend mit Ibsens Frauengestalten auseinandergesetzt und zur Verteidigung des Dramatikers unter dem Titel „Die Wildente“ Publikationen verfaßt hatte, noch vor ihrer Bekanntschaft mit Freud an die Schwelle der Psychoanalyse, später, als Mitglied des internen Kreises der Wiener Psychoanalytiker, zu einem eingehenden Studium von Freuds Wissenschaft und schließlich, als eine der ersten Frauen, sogar zur praktischen Ausübung der Psychotherapie. Zu diesem Thema publizierte sie die Aufsätze: Psychosexualität, Psychische Liebe, Eros, Narzißmus, Vom religiösen Affekt, Der Kranke hat immer Recht und andere. Als selbständige Veröffentlichung erschien das Buch „In der Schule bei Freud“. Dieses „Tagebuch eines Jahres“ (1912/13), enthält den Briefwechsel mit Freud, psychoanalytische Aufzeichnungen und wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit den damals in klare Gegnerschaft zu ihrem Lehrer getretenen Forschern Alfred Adler und C. G. Jung. Zu Freuds 75. Geburtstag im Jahre 1931 erschien ihre Schrift „Mein Dank an Freud“ als offener Brief. Sehr beeindruckt von ihren kühnen Formulierungen nannte der große Gelehrte ihre Arbeit „eine echte Synthese ..., der man zutrauen könnte, daß sie die Sammlung von Nerven, Sehnen und Gefäßen, in die das analytische Messer den Leib verwandelt hat, wieder zum lebendigen Organismus rückwandeln kann“. Die über zwei Jahrzehnte währende Freundschaft mit Lou war für den von vielen Anfechtungen heimgesuchten Gelehrten ein unentbehrlicher Rückhalt.

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Nicht alle Persönlichkeiten, die Lous Lebensweg gekreuzt und mitbestimmt haben, können hier erwähnt werden. Lou, die 76 Jahre alt wurde, kannte Tolstoj und Drosdin, Gerhart Hauptmann, Buber, Strindberg, Wedekind, Richard und Cosima Wagner, Frieda von Bülow, Malvida von Meysen-burg, Marie von Ebner-Eschenbach, Schnitzler, Beer-Hof-mann, Hofmannsthal, Felix Saiten, Peter Altenberg, Werfe!, Max Reinhardt, Knut Hamsun und viele andere.

In ihren Memoiren, die das gesellschaftliche und geistige Leben einer glänzenden, nicht wiederkehrenden Epoche Europas reflektieren, in diesem „Rückblick“ auS ihr Leben, das eingewirkt bleibt in das Leben anderer, schreibt Lou in dem Kapitel „Was am Grundriß fehlt“ über dieses Werk selbst folgendes: „Das Elementarische und Intime sagt von sich nicht selber aus. Mithin bleibt das Wesentliche als solches ungesagt. Verschweigt sich aber so ein Positives, dann kann es noch zum Bekenntnis werden vom Negativen her: an seinen Fehlern und Mängeln kann es sich umreißen, mit seinen leeren Stellen den Umriß bedingen“

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