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Freundschaft mit Büchern

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Aus meinem .Kindesalter sind mir zwei Bücher in dauernder Erinnerung geblieben: ein geistliches und ein weltliches. Das eine war das Gebetbuch meiner Mutter. An Sonntagen, wenn ich neben ihr im Kirchenstuhl hockte und nach und nach alles versuchte, was sich mit bloßen Händen und Füßen gegen die Langeweile erfinden läßt, dann sah die Mutter plötzlich zürnend auf mich nieder und gab mir das Heilige Buch. Sie hätte sichtlich gern ein Kopfstück vorausgeschickt, aber das durfte sie hier nicht tun, die Kirchenbank war eine Freistatt aller Sünder. So saß ich also beglückt und warm zwischen weiten Frauenröcken eingebettet, hielt, das Buch auf meinem Schoß und blätterte darin.

Schon der Druck war wunderlich genug, groß und verschnörkelt. Gottes oder Christi Namen standen immer rot dazwischen und füllten eine ganze-Zeile aus. Ich buchstabierte die seltsamen Anrufungen und Litaneien, darin die Muttergottes ein elfenbeinerner Turm genannt wird, ein goldenes Haus oder eine Arche, und sie nimmt es nicht übel. Vor allem aber betrachtete ich immer wieder die vielen losen Bilder zwischen den Blättern. Da gab es Andenken an Wallfahrten, die sich meine gute Mutter für das Heil der Ihren auferlegt hatte, manche kostbar bemalt oder mit Goldstaub bestreut, und andere, dir'rtenT ^useinWdfeYftfrterr könnte,“ tttfl Mb kam Unsere Liebe Frau zum Vorschein, schwarz loAngÄt utfd-'eWetflg1 ai/erög^sp?Ä-ten Motte ähnlich. Auf etlichen Blättchen sah man Heilige abgebildet, die wurden einem nach der Beichte mitgegeben, damit der Büßende nicht ganz ohne Trost und Beistand blieb.

Am zahlreichsten aber waren die Sterbebilder. Ich fand unsere ganze jenseitige Verwandtschaft im Gebetbuch der Mutter versammelt. Einige hatte ich selber bei Lebzeiten gekannt, dann Waren sie plötzlich verschwunden und eine Weile später tauchten sie in diesem Buche wieder auf. Viele aber waren mir ganz fremd, die Mutter nannte mir ihre Namen, wenn ich auf dem Heimweg danach fragte und manchmal knüpfte sie auch ein mahnendes Wort daran. Der war liederlich, sagte sie, und deswegen ließ ihn Gott in den Wildbach fallen, merk dir das!

Noch schlimmer stand es mit anderen, etwa mit unserem Großvater, von dem die Sage ging, daß er als Bergführer eine Goldader entdeckt hatte, aber vorzeitig krank wurde und, als der düstere Mensch, der er war. mit seinem Geheimnis zu Grabe ging. Manchmal, wenn ich sommers um Beeren geschickt wurde, nahm ich heimlich sein Bild mit mir, des Glaubens, er werde es sich doch nicht versagen können, ein bißchen das Gesicht zu verziehen, wenn ich zufällig seinem Schatz auf die Spur käme. Aber das tat er nicht, er blieb verschlossen, ein unheimlicher Mann mit seinem schwarzen Wangenbart. Gott verzeihe ihm. Wir könnten alle in Freuden leben, wenn er nur rechtzeitig den Mund aufgetan hätte.

Das andere, das weltliche Buch aber war der Kalender. Den kaufte der Vater im Spätherbst auf dem großen Jahrmarkt, und wenn der dicke Band endlich erstanden war Und sicher in meinen Armen lag, dann hatten alle Buden mit Knallbüchsen und Rollschlangen, mit Lebkuchen und türkischem Honig keinen Reiz mehr für mich. Denn der Kalender barg unerschöpfliche Schätze an Kurzweil und Erbauung für ein ganzes Jahr. Die eigentlichen Kalenderseiten blieben freilich der Mutter vorbehalten. Sie merkte dort an, wenn nach Gestalt des Mondes und nach den Tierkreiszeichen unsere Haare geschnitten oder die Bohnen im Garten gelegt werden mußten. Das war eine geheime und weitläufige Wissenschaft, in der nur die Mutter Bescheid wußte, und selbst der Vater zweifelte offenbar nicht daran, daß sie es gewissermaßen in ihrer Macht hatte, uns alle mit krausem Haar vom Widder oder mit glattem vom Wassermann zu versehen.

Aber der übrige Teil des Kalenders gehörte mir. Wochen brachte ich allein damit zu, die Bilder alle farbig auszumalen oder nach meinem Gefallen zu ergänzen, und dann waren noch immer die Geschichten nicht gelesen, die Merkwürdigkeiten der Welt nicht bestaunt, kein Rätsel war gelöst und kein Spaß verstanden. Beiläufig gesagt, ich konnte mich an Scherzen überhaupt nicht belustigen, ich wollte jeden ergründen. War etwa von dem Gast die Rede, dem der Kellner die Fliege in der Suppe als Fleischgericht anrechnete, so plagte ich den Vater tagelang mit dieser Fliegengeschfchte; sie war für mich kein Scherz, 'sondern eine bitterernste Rechtsfrage.

Bitterernst nahm ich auch alle anderen Erzählungen. Der Kalendermann hatte einen seherischen Blick für alles Rätselhafte und Künftige, und wenngleich die Mutter meinte, ein Mensch werde niemals fliegen lernen, es holte ihn denn der Teufel durch die Lüfte, wie es zuweilen vorgekommen sei, so glaubte ich doch an das Wunder und mein Glaube hat recht behalten. Ich las die Berichte von den Abenteuern frommbeherzter Missionäre, die ergreifenden Spiele vom Kampf der Tugend gegen die Mächte der Finsternis — ach, nie wieder im LeSehHsä Ütaft .ÜJBb i Gute so liebenswert, das Böse so verächtlich erschienen! Manche dieser Geschichten könnte ich noch heute nacherzählen, heute freilich nicht ohne Lächeln. Aber vielleicht macht es gar nicht sehr viel aus, daß ich zuallererst bei einem einfältigen Kalendermacher statt bei einem größeren Licht des Geistes in die Lehre ging. Und heimlich hole ich mir ja noch immer Rat aus der Erinnerung, wenn mein eigener Witz versagt und alle Weisheit, die auf Stelzen geht.

Um jene Zeit kamen auch andere Bücher in meine Hand, aber die waren mir viel weniger lieb. Denn zwischen der ersten Fibel und dem Leitfaden der Naturgeschichte für die Oberstufe senkte sich immerfort Schulstaub und Mühsal auf meine Kinderwelt herab. Die Mutter hätte es für sündhaft gehalten, ein Buch zu kaufen,das nicht zum Lernen oder sonst für einen nützlichen Zweck taugte. Ich aber war um so eifriger hinter allem Gedruckten her, und besonders die Ruhebänke auf den Promenaden hielt ich im Auge, weil vergeßliche Kurgäste dort manchmal ihre Bücher liegen ließen. Brachte ich so einen Fund nach Hause, so verschloß ihn die Mutter gleich in der Nählade, damit ich nicht daran verdürbe. Aber ich hatte das Buch schon gelesen, weit schneller, als meine gute Mutter es für möglich hielt, und sie wunderte sich nicht wenig, daß ich ihr Fortgang und Ende gleichsam weissagen konnte, wenn ihre eigene Neugier noch kaum über die ersten Seiten hinaus war.

Eine dieser Geschichten ist mir schon damals vor allen lieb gewesen, nämlich die des Schiffbrüchigen Robinson. Das Buch gehörte dem Sohn der Doktors in der Nachbarschaft, und weil es ihm streng verboten war, mit uns Gassenkindern umzugehen, mußte ich meinen ganzen Scharfsinn daran wenden, bis ich diese Kostbarkeit endlich durch einen recht anrüchigen Kunstgriff beim Kugelspiel an mich bringen konnte.

Ich besaß den Band noch, als ich längst den Kinderstrümpfen entwachsen war und meine Jugend in den Schützenlöchern und Kavernen der Gebirgsfront begraben mußte. Irgendwo verlor ich dann das Buch, auf den endlosen Märschen oder in der traurigen Dämmerung der Gefangenschaft, ich weiß es nicht mehr, damals verlor ich viel. Es gesellte sich in diesen Jahren ja auch manches andere Buch zu mir und wurde nicht eben wert gehalten, aber einige blieben mir doch dauernd, aus Zufall oder weil sie mir wahrhaft teuer waren.

Später, als ich ins Stille geriet und mein Leben im Dorf einzurichten begann, fügte es sich bei meinem Hang zum Handwerk ganz von selbst, daß ich mich mehr und mehr auch mit dem Äußeren des Buches befaßte, mit seiner dinglichen Gestalt. Viele vergilbte Schwarten habe ich mühsam zerlegt, um den alten Meistern hinter ihre Schliche zu kommen. Ich sah mit Bewunderung, wie sie den Vorsatz falzten oder das Kapital umstachen und noch den Heftfaden kunstvoll über die Bünde schlangen, obwohl das doch nie jemand zu Gesicht bekam. Schließlich lernte ich es auch, und daran habe ich noch immer meine Freude. Stehe am Schrank vor den schön gewandeten Büchern, befühle das köstliche Leder, schlage eines und das andere auf und suche darin nach dem Wort, das mir lieb ist.

Und so wird es wohl auch bleiben: am liebsten binde ich Bücher, weniger gern lese ich welche und am wenigsten mag ich sie selber schreiben.

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