6556064-1948_22_09.jpg
Digital In Arbeit

Frühlingsnacht

Werbung
Werbung
Werbung

Vom Himmel’ strömte seit Stunden der Regen. Es war Frühling. Aber nicht der Frühling der harzglänzenden Knospen, die von Tag zu Tag mehr schwellen, bis sie leise krachend aufbrechen. Nicht der Frühling der ersten smaragdgrünen neuen Gräser, die dann auf einmal zu einem weiten prächtigen Teppich zusammenwachsen. Auch nicht der Frühling von Blumen, blauem Himmel und Vogelgesang aus allen Büschen. Es war einfach der Jahreszeit nach wärmer geworden und der letzte Schneefall hatte sich erst in nasse Fetzen verwandelt, die klatschend hier und da aufschlagen. Und dann waren es auch keine feuchten schweren Schneeflocken mehr, sondern nur große Tropfen.

Sie fielen in der Dunkelheit; sie waren überall. In ihnen war die Unruhe und wo sie die Erde trafen, hob sich die Krume sehnsüchtig und erwartend. Aber wer sah dies im Dunkel, wer ahnte es im Getriebe

des Alltäglichen? Man hätte es kaum im grellsten Tageslicht gesehen. Höchstens ein Dichter. Und selbst die? Auch das wäre nicht gewiß, denn vielfältige Gedanken hätten dieses Stöhnen, das in seiner Mächtigkeit so lautarm war, überdeckt.

Einer war draußen, aber er war kein Dichter und überdies war sein Ohr taub, weil sein Herz es war. Oder vielmehr; Er hatte sein Herz bezwungen, endlich ruhig zu sein, still zu sein. Und es mochte der Mann in der dunklen einsamen Frühlingsnacht wohl wissen, daß das Ding in seiner Brust oder im Kopf oder irgendwo in ihm, das Gefühl oder Herz oder Seele genannt wird, noch immer nicht wahrhaftig ruhig war. Es war sęumm. Deshalb rührte er nicht daran. Und weil er das Denken nicht ganz lassen konnte, so dachte er an das Kommende, das seinem Entschluß folgen sollte. Ob es schmerzen würde?

Er hatte lange gezögert, hatte sich nach dem Wie gefragt. Er hatte dieses Leben so satt! Erst hatte es ihn angeekelt, dann verdrossen. Er ward seiner müde und zwischendurch war er verzweifelt. Und immer wieder hatte er dann gedacht, nun sei diese oder jene Anwandlung vorüber, nun gehe es wirklich aufwärts, nun sei das Trübe endgültig vorbei. Und immer wieder kam es stärker, bezwingender, heftiger.

Jetzt war es soweit, Er blickte auf seine Uhr, strengte die Augen an, damit sie das geheimnisvoll grünleuchtende Ziffernblatt erkannten. Noch eine knappe Viertelstunde. Dann würde der abendliche Schnellzug heranbrausen, mit donnernden Rädern auf klirrenden Schienen, er würde sich mit Wucht vornüber stürzen und dann war es vorbei! Um das andere mochten sich die kümmern, die sein Leben zerbrochen hatten, indem sie ihn ausgestoßen, ihm nicht geholfen hatten; indem sie einfach ihr Leben dahinlebten, das aus irgendeinem Grund besser war, ohne zu denken, daß neben ihnen, über ihnen, in Kellern und elenden Dachkammern Mitmenschen lebten, die eines unerwarteten Zuspruches, einer herzhaften, suchenden Hilfe bedurften.

Der Mann stand an der Bahnböschung und starrte auf das kurze glitzernde Schienenstück, das er etwas über sich zu sehen glaubte. Ein wenig Glanz auch in dieser Nacht, in seiner seelischen Nacht, so kurz vor seinem Tode. Wie es wohl nachher sein würde?

Da war sein eigenes Leben. Er wußte, da war sein Körper, aufgebaut aus Millionen einzelner Zellen und diese wieder aus unvorstellbar kleinen Molekülen. Das sollten für sich kleine Weltsysteme sein, hatte er einmal vernommen. Sonderbar! Alle diese winzigen Bausteine waren sich eins, griffen einer in den andern, bildeten die Welt seines Körpers. Nur das Ganze, er, der Mensch, war uneinig mit dem größeren Ganzen. Wo lag der Fehler? Oder — nein, es war ja sinnlos! Sinnlos, es wieder zu bedenken, was er so oft vergeblich gesucht.

Aber der Gedanke kam wieder: alle diese winzigen Teilchen seines Selbst waren Leben. Irgend etwas gab ihnen die Fähigkeit zur Bewegung, zum verschiedenen Tun, zu dem, wa ihr Dasein ausmachte. Was war das: Leben? Was für ein sonderbares Ding! Würde er es wissen, nachdem er erfahren, was Tod sei? Leben, das war Bewegung, dies eine schien sicher zu sein. Tod, das war Stille und Unbeweglichkeit. Und vom Leben zum Tod, diese unbekannte Brücke? Wohin floh das Leben, wenn ein Wille den Körper zum Tode bestimmt hatte?

Leben war also Bewegung! Aber der Tod, der beschlossenermaßen darauf zubrauste, noch unsichtbar, aber schon in der Feme zu ahnen, war der Tod nicht auch Bewegung? Rasend schoß das Gestänge über die Triebräder der Lokomotive — war es so, daß die heftigere Bewegung die weniger heftige besiegte, unterwarf, aufschluckte? Würde das Leben von den hämmernden Rädern, die den Körper zermalmen würden, in die endlosen Eisenbahnschienen getrieben werden, um dort ewig als eine Art Stromstoß zu pulsen?

Der todbereite Mann hob die Hand an die Stirn. Sie war naß und kalt, es mochte der Regen sein oder Todesschweiß. Wieleicht bewegte sich doch sein Arm, die Hand, der Finger, der über den Haaransatz glitt. Nur ein winziger Gedankenfunke, schon wischte eine Handbewegung den Hut beiseite. Was brauchte er auch noch einen Hut!

Und erneut hob er die Hand. In diesem Augenblick genoß er noch einmal den Willen und wjr es auch nur zu einer schwachen Bewegung. Es fiel ihm ein, daß er vor langen Tagen einmal einem Käfer ganz nahe zugesehen hatte, wie der seine gepanzerten Beine bewegte. Es hatte so schwierig ausgesehen, vielleicht war es auch schwierig. Ob diese Käfer wohl ein härteres oder ein leichteres Leben hatten als die Menschen?

Man müßte so vieles auf dieser Welt wissen, was man niemals erfuhr! Ob ein Käfer, der sich unglücklich und nutzlos fühlte, seinem Leben jemals ein Ende machen würde? Vielleicht — nicht? Nein, der Mann glaubte, ein Käfer vermöchte das wohl nicht. Und er lachte.

Es war kein bitteres oder höhnendes Lachen. Es war vielmehr ein glückliches. Es war irgendwie das Empfinden darin, mit einer Sache vorangekommen zu sein. Er konnte also in einer Beziehung doch mehr als ein anderes Lebewesen! Das war gut. Das richtete auf!

Ein solcher Käfer war viel kleiner als ein Mensch. Aber auch er besaß eine genau abgemessene Menge von jenem .Etwas, das Leben hieß. Legte man djn Käfer auf die Schienen und der Zug fuhr darüber, war auch er tot. Also hier ein Leben und dort eins. Wohin verschwanden diese kleinen und großen Leben alle, die niemals mehr erahnt wurden? Ja, er würde es so wenig erfahren wie irgendeiner vor ihm oder nach ihm. Am Ende war das gar nicht das Wichtigste, das Wissen? Was gab es dann als Oberstes, Erstes? Was? Er stöhnte.

War er nicht einst ein kleines Kind gewesen, lachend und glücklich? Er hatte nur von dem gewußt, was er greifen konnte. Aber das Leben in ihm hatte dem Leben um ihn vertraut; er war gewachsen und hatte gelernt, daß es außer jenen kleinsten Dingen noch tausend andere gab. Und so wie er war einmal die ganze Menschheit gewachsen, hatte über Speise und Trank unversehens die Kenntnis ihrer Kräfte und der Möglichkeiten ihrer Welt gewonnen. Und ihnen allen, ob sie gleichgültig, schlecht oder gut waren, ihnen gar allen war das Geheimnis ihres kleinsten, eigensten Raumes vorenthalten geblieben! Sie kannten ihre Seele nicht. War cs so, daß ein gütiger Lehrer auf eines seiner Bücher die Hand gelegt hattČ? damit es geschlossen bliebe und nicht mit schweren Worten den Kreis wartender Augen und Herzen zerbreche? Oh, man müßte glauben können!

Das Unerfaßliche war in dieser Nacht, in dieser Stunde in allem. Und für eine winzige Zeitspanne wurde es in einem Menschen übermächtig. Ęr atmete tief, umspannte seine Brust mit beiden Händen, als umgreife er ein ganzes Erdenrund, bevor es unter einem erleuchtenden Schein zur Ruhe geht. Und er rief in den strömenden Regen hinaus, der kein Wort zurückgab, jagte den Schmerz von sich und die bedrängende Not der immer wiederkehrenden Gedanken vom Tod. Mit den abgebrochenen Sätzen, die sich in unruhigen Lauten von seinen Lippen lösten, ging die Verzweiflung, die Starre, der finstere Mut. Der Mensch faßte sich, flüsterte noch einmal das letzte Wort: „Leben!”

„Ja — ja — ja — ja!” trommelten die Regentropfen auf die winterharte Erde. ,,Ja — ja — ja — ja!” hämmerte es in seinen Adern, als klopfe für jeden fallenden Tropfen Wassers ein Tropfen Blut in ihm.

Der Bahndamm war lehmig und vom abströmenden Wasser rutschig geworden. Der Mann im Dunkeln glitt mehr, als er schritt, er suchte mit der Hand seitwärts Halt und ergriff einen verlorenen Hut. Noch einmal brach ein Ton aus seiner Kehle, mehr ein Schluchzen als ein Lachen, weniger ein Stöhnen als der Laut eines Kindes, dem sich ein Tor in der Finsternis geöffnet hat. Ein Mensdi hatte das Dasein wiedergefunden. Das Leben hatte sich ein Leben erhalten.

Längst schon sollte der Schnellzug über die Brücke fahren. Doch an einem Gebirgs- hang hatte der Regen eine Lehmlawine gelöst und den Eiligen aufgehalten. Die Streckenwärter machten sich ein Zeichen …i ihrem Fahrplan und warteten ungeduldig, denn nach diesem Zug wollten sie essen, ihr Kartenspiel beginnen oder schlafen gehen.

Endlich brauste der Verspätete durch.

Vor ihm klingelte es, hinter ihm hoben sich Schranken. Durch die Lichtkegel der weit vorausstrahlenden Scheinwerfer der Lokomotive schnitten glitzernde Regenschnüre, trafen auf die Fenster und liefen als kleine wirbelnde Bäche entlang. Es rauschte und dröhnte und schlug einen harten Takt: „Ratata — ratata — ratata — ratata —.”

Eine Symphonie des Lebens unter vielen.

Und fernhin gellte einmal ein Pfiff, durchdringend, schneidend, warnend, ohrengellend in der Nähe, in dem sich alle Not der Menschheit zusammenzudrängen schien. Die Erde aber saugte die Feuchtigkeit auf, die Schollen wucherten und bedrängten einander und barsten endlich, und später in der Nacht, als der Regen aufgehört hatte, brach aus dem verjüngten Boden der hoffnungsvolle Geruch bereiter Äcker.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung