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Fünfzig Jahre europäischer Kulturgeschichte

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RILKES LEBEN UND WERK IM BILD. Bearbeitet von Ingeborg Schnack. Mit feinem biographischen Essay von J. R. von Salis. Erschienen im Insel-Verlag. 265 Seiten. Preis 30 DM

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RILKES LEBEN UND WERK IM BILD. Bearbeitet von Ingeborg Schnack. Mit feinem biographischen Essay von J. R. von Salis. Erschienen im Insel-Verlag. 265 Seiten. Preis 30 DM

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Es vergeht kaum ein Jahr, in dem nicht ein bedeutender Briefwechsel, eine Monographie oder ein Bildband erscheint, in denen die letzten Jahrzehnte von Alteuropa beschworen werden. Diese Zeit: das vielgescholtene ausgehende 19. Jahrhundert bis herauf zu den hektischen zwanziger Jahren, war nicht nur überreich an Persönlichkeiten, sondern auch an den vielfältigsten künstlerischen Beziehungen, deren Spuren man in Tagebuchaufzeichnungen, Korrespondenzen (man schrieb damals noch Briefe!) und Bilddokumenten verfolgen kann. Rilkes Leben ist in dieser Hinsicht besonders ergiebig. Er war, ein moderner Kulturnomade, ständig unterwegs — freilich weniger, um seine Reiselust zu befriedigen, als auf der Suche nach günstigen Arbeitsbedingungen. Schreiben, ungestört arbeiten können — das war ihm Leben. Er lernte auf diese Weise unzählige Menschen kennen. Zwar stand er, von den frühen Anfängen abgesehen, als er eine befremdliche literarische Selbstpropaganda entwickelte, ganz abseits des literarischen Betriebs. Aber er hatte Kontakt zu den verschiedenartigsten Menschen seiner Epoche, darunter zahlreichen interessanten und berühmten Persönlichkeiten. Er war der schwierige, wenn auch stets vollendet höfliche Liebling und das Sorgenkind vieler Mäzene, Freunde und Gastfreunde, nicht zuletzt das seines Verlegers, dessen Langmut er ebenso auf die Probe stellte wie die Geduld seiner Leser. Rilke lebte glücklicherweise in einer Zeit, wo ein einmal „berühmter“ Autor es sich leisten konnte, zehn Jahre lang nichts zu schreiben — ohne im Straßengraben oder in einer Dachkammer zu landen.

Das vorliegende Buch zeigt die Stationen dieses Lebens. Infolge besonderer Umstände ist es mehr ein Zeitbild, ein Kulturdokument, als eine Ikonographie geworden. Das lag nicht nur in der Absicht der Herausgeber. Rilke liebte nämlich seine Photobilder nicht. Er wollte nur so da sein, wie er in der Vorstellung, im Gefühl und in der Erinnerung einiger Freunde lebte. Im lahre 1914 schrieb er:

„Ich Hell, seit wohl zehn Jahren, keine Aufnahme zu. Teils, weil ich die moderne, eingebildete, selbständige Photographie nicht liebe, teils, weil, bei der indiskreten Oeffentlichkeit unserer Zeit, ein einmal vorhandenes Bild zu leicht unter die Leute und in den albernsten Handel kommt.

Man liest diese Zeilen nicht ohne Rührung. Was l\ätle f!der Zartbesaitete'! au dem . Bildbtetichte'tweseri unserer Zeit gesagt, das nicht einmal vor Sterbenden zu bremsen ist.. .

Trotz dieser Abneigung gegen die Photolinse ist dank der Zeit- und Sachkenntnis der Herausgeber ein sehr ergiebiges Buch zustande gekommen mit insgesamt 359 Bildern, die durch beigegebene Texte, zumeist Zitate aus Rilkes Werken, erläutert werden: eine ebenso authentische wie anregende Kommentierung. Was bei den Bildlegenden an Kenntnis des Werkes und der Lebensumstände da und dort vorausgesetzt wird, findet man zu einem großen Teil in der konzentrierten, noblen, 50 Seiten umfassenden Einleitung von J. R. von S a 1 i s, einem mono graphischen Meisteressay aus der Feder des Autors .von „Rainer Maria Rilkes Schweizer Jahre".

Rilkes Leben begann in Prag. Man sieht den Hradschin, die Kleinseite, ein schönes altes Hausportal in der Herrengasse, die Großeltern, den Vater (der Angestellter bei der böhmischen Nordbahn war), mit breitem Backenbart, die Mutter Phia, offensichtliche eine „Schwierige" mit den Zügen einer verstockten Hysterikerin. (Man kennt ihre unheilvolle Rolle im Leben Rilkes, seine — zeitweise — „rabiate Antichristlichkeit“ ist größtenteils als Reaktion auf Phia Rilkes Bigotterie zu deuten, die in vielem sein Gegen-Ich war.) Dann schaut uns ein zartes Kind mit traurigen Augen an, ein Knabe in Mädchenkleidern, mit auffallend großem und weichem Mund. Es folgen Bilder aus der Militärrealschule von Sankt Pölten, wo, obwohl die Behandlung des Zöglings Renė keineswegs so rauh war, wie der Dichter sie später zu schildern liebte, der Grund gelegt wurde zu Rilkes Abneigung gegen alles, was k. u. k. hieß . ..

Rilke war weder „Deutscher“ noch „Oester- reicher", und auch Böhmen, ja sogar die Geburtsstadt Prag, von der er innerlich vielleicht nie ganz losgekommen ist, hat er später verleugnet. Am meisten fühlte er sich in Paris zu Hause, wohin er immer wieder zurückkehrte. Und zwischendurch — Reisen: nach Berlin, nach Rußland, Italien, Südfrankreich, Spanien, Afrika . .. Und immer wieder: Schlösser, alte Herrensitze, seine mit allem Komfort ausgestatteten Zimmer bei Freunden und Mäzenen. Und Begegnungen mit vielen Menschen, berühmten Männern, wie Simmel, Breysig und Tolstoi, mit den Künstlerfreunden Kokoschka. Hofmannsthal, Romain Rolland, Maurice Maeterlinck, Werfel, Zweig und anderen — und Bilder vieler Frauen: von Lou

Andreas Salome, Clara Westhoff, mit der er ver heiratet war, der Jugendfreundin Vallery von David- Rhonfeld — alle im Typ ein weng ähnlich der so wenig geliebten Mutter. Und dazwischen das faszinierende, todernste, ein wenig negroide Gesicht der jungverstorbenen, tanzbegabten Wera Ouckama Knoop, das kluge, gütige der Fürstin Marie von Thum und Taxis, die vielen Schweizer Freunde, zuletzt immer wieder das von Frau Nany Wunderlich- Volkart, der Fürsorglich-Getreuen, die als einzige bei Rilkes schwerem Tod zugegen war. Schließlich das Sanatorium von Valmont und Raron oberhalb von Sierre, mit dem Grab neben der .Mauer, welch die alte Bergkirche umgibt, mit dem Blick ins Rhonetal. — Natürlich fehlen auch Handschriftproben und Abbildungen der Erstausgaben nicht, von den „Weg- warte-Liedem“ („dem Volk geschenkt von Renė Maria Rilke“), unwahrscheinlich schlechten ersten Versen, bis zu den mit fliegender Hand hingeworfenen Zeilen der Elegie-Entwürfe.

Ein reichhaltiges, wichtiges Buch, von kundiger Hand zusammengestellt und von Rilkes Verlag würdig ausgestattet, ein Künstlerleben in Bildern, ein Kulturdokument und eine ergiebige Materialsammlung auch für den Soziologen und Tiefenpsychologen.

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