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Für eine vergeßliche Zwillingsschwester

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Heute morgen sind die Veilchen aufgeblüht. Schon gestern war ein ganz besonders schöner Tag. Eine leise, zitternde Erregung lag in der Luft, wie immer vor einem großen Ereignis.

Auf der Linde vor dem Fenster saßen drei Vögel. Der erste schnalzte laut und satt gggggggu, der zweite klagte gigigigogo, immer langsam anschwellend, dann abfallend und leise schluchzend.

Weshalb schluchzt ein Vogel im April? Wir werden e9 nie erfahren und können uns nur ungewissen Vermutungen hingeben. Vielleicht hatte ihn die milde Abendluft aus dem Häuschen gebracht oder der Anblick des zartblauen Himmels.

Als er auf dem Höhepunkt angelangt war und seine winzige Vogelseele sich beinahe aus dem Federbällchen vom Leib geweint hatte, erhob in der höchsten Krone der Linde der dritte Vogel seine Stimme.

Zieh! sagte er, und noch einmal Zieh!

Es klang ein bißdien strenge und doch begütigend, gerade als ob er sagen wollte: Um des Himmels willen, regen Sie sidi doch nicht auf, es ist Ihrer Gesundheit nicht zuträglich!

Sogleich ließ das klägliche Schluchzen nach, noch ein paar Stoßseufzer gigi, gi- giggo und der Vogel hatte sich in den Schlaf geweint.

Der Himmel zerfloß in Blaugrau und silbrige Dunstschleier stiegen von den Weiden auf. Beruhigt schloß ich das Fenster.

Gestern abends hätte ich also schon ahnen können, daß etwas Großes bevorstand. Aber ich bitte dich, wer hat in diesem sonderbaren Leben schon Zeit, an die wichtigen

Dinge zu denken? Ein Besucher kan? und schwatzte dies und jenes und erfüllte mein Zimmer mit dem blauen Rauch seiner Zigarre, bis ich vergaß, daß vor dem hohen Fenster der Frühling schlummerte.

Und heute früh ist es also geschehen.

Ich stand vor dem Herd und rührte in der Milch, als der Morgenwind die ersten zaghaften Duftwellen zum offenen Fenster hereintrug. Und wie jedes Jahr, wenn die Veilchen aufblühen, mußte ich für einen Herzschlag lang die • Augen schließen.

Da war aber auch schon das Unglück geschehen, die kochende Milch lief zischend über die Platte und tropfte in meine Schuhe. Es war ein unangenehmes Erwachen.

Ich höre dich lachen, hell und ein bißchen spöttisch. Du hast mir ja erst vor einer Woche erklärt, daß du dich kaum an unsere Kindheit erinnern könntest.

„Wenn man in der Welt herumkommt und vieles erlebt, vergißt man diese alten Geschichten“, hast du mit einer geringschätzigen Handbewegung gesagt.

Mit einemmal war dein Gesicht unter dem modernen Hutungetüm wie weggewischt und ein anderes tauchte dafür auf.

Zuerst verschwommen, dann immer klarer, das runde, großäugige Gesicht eines fünfjährigen Mädchens. Dein vergessenes Kindergesicht.

Ich sah dich auf der alten Holztreppe sitzen. Die ersten Sonnenstrahlen nah einem langen, grauen Winter lassen das bräunlihe Geländer aufleuhten und du stehst und starrst verzückt in das Wunder.

Sie ist also wirklih wiedergekommen, die Sonne, die großen Leute haben nicht gelogen!

Sie nimmt eine Handvoll goldener Stäubchen und wirft sie durh das Fenster auf die Stiege, auh auf deinem Krauskopf bleiben sie hängen wie ein zitternder Shleier.

In diesem Winter war dein Haar so stark gewahsen, daß Mutter winzige Zöpfhen daraus floht, die dir waagrecht von den Shläfen abstanden und an denen zwei große rosa Shleifen prangten. Mein Haar lag noh in kurzen gelben Ringeln um den Kopf und ih bewunderte dih maßlos, aber ohne jede Spur von Neid.

Die Sonne blieb mit jedem Tag ein bißhen länger.

Eines Tages zog man uns lange Jacken aus grauer Schafwolle an, darunter wippten lustig unsere grellroten Barhentröckhen. So ausgerüstet stapften wir in unseren viel zu großen Shuhen in den feuhten Märztag hinaus.

Die Shneeluft wehte vom Berg und wir faßten uns fest an den Händen. Ih sah deine nackten, kleinen Ohren erglühen, aber du bohrtest das kleine, mutige Gesicht keck in den kalten Wind.

Unser erster Weg führte zum Bah.

Die Wiese lag feucht wie ein riesiger Shwamm vor uns. Bei jedem Shritt gluckste es laut unter der Decke au9 vergilbtem Gras. Manchmal sanken wir bis zu den Knöheln in die quellende Feuchtigkeit.

Aber am Rand des Baches leuchtete es shon frish und grün. Die junge Brunnenkresse!

Wir zupften die winzigen Blättchen ab und zerbissen sie neugierig. Scharf schmeckten sie und ein wenig bitter und wir wußten nie genau, ob wir sie eigentlich mohten oder niht. Aber das tat auh nichts zur Sache.

Zu Ostern würden sie als grüne Rosette unter den halbierten Eiern liegen und mit den gelben Dottern um die Wette leuchten.

Die Butterblumen hatten noch feste grüne Knospen, aber ihre breiten Blätter standen schon fett und glänzend über dem braunen Gras.

Und wie hatte sich der Bach verändert!

Klein und murmelnd war er im Herbst dahingeeilt, glasklar bis auf den bräunlichgrünen Grund.

Heute shoß er wild und eilig daher. Weiße Shaumfetzen tanzten auf seinem Rücken und übermütig spritzte er ein paar große Flocken auf unsere Jacke.

Wir lachten nur dazu. Da Wasser rann an der harten, drahtigen Wolle ab und wenn wir später in die Küche kamen, wurden unsere Jacken über den Herd gehängt, dort dampften sie wie die grauen Felle unserer Schafe nach einem Gewitterregen.

Wenige Tage später öffnete das Schneeglöckchen seine Blütenblätter.

Ganz allein stand es neben dem grauen, morschen Wasserleitungsrohr und ließ seine schmalen grünen Blätter im Winde wippen. Es war das einzige Schneeglöckchen in weitem Umkreis. Jedes Jahr bewunderten wir sein gelbes Herz und freuten uns über die zartgrünen Spitzen seiner weißen Blütenblätter.

Eigentlich hättest du es nicht vergessen dürfen!

Später kletterten wir dann auf den riesigen Stein, der hinter der Scheune lag, gerade unter dem Hollerstrauch.

Wir wollten sehen, ob das Moos auch schon grün und saftig wuchs.

Wie ein gelber und brauner Pilz stand es noch struppig auf dem grauen, zerbröckelnden Gestein, aber wenn man sehr genau hinsah, konnte man sehen, wie es sich leise zu färben begann. Noch drei Wochen mit Regen und Sonnenschein und es würde als sattgrüner Polster in unseren Osternestern liegen.

Weißt du noch, wie die roten und gelben Eier darin versanken, weich und tief?

Und doch willst du dich nicht mehr erinnern an den alten Moosstein.

Du, die du sein Liebling warst und das winterblasse Gesichtchen in seinen alten Pelz vergraben hast.

Ich fürchte, du willst dich nur nicht erinnern.

Vielleicht ist er in den Jahren, in denen du draußen in der Welt so rasch und leicht dahingelebt hast, manchmal in deinen Träumen vor dir aus der Dunkelheit gewachsen.

Stumm, grau und uralt.

Ein Ding, das sich nicht von schmalen Armen aufheben läßt und das nichts kann, als grünes Moos für Osternester spenden. Man kann ihm nicht verbieten, sich auf unseren Traumwegen vor unsere eiligen Füße zu legen, nein, das kann man nicht, aber man kann ihn an den langen, lauten Tagen vergessen.

Und die Wiese wurde immer grüner.

Längst schon leuchtete vom Waldrand ein Saum von blauen Leberblümchen. Die Dotterblumen am Bach hatten ihre Knospen gesprengt und prahlten mit ihren leuchtenden Blüten.

Und im Gehölz versteckten sich Hansel und Gretel.

Immer eine Dolde blauer und roter Blüten auf einem Stamm.

Wir wagten nie, sie zu pflücken, sie erschienen uns immer ein bißchen geheimnisvoll.

Später lernten wir in der Schule ihren richtigen Namen: „Lungenkraut“. Was für ein häßliches Wort! Wir sahen einander in die Augen und lächelten. Wir wußten es ja viel besser!

Noch immer stehen Hansel und Gretel in rotem und blauem Röckchen im Ge-’ hölz, zaghaft und scheu, wie es sich für verirrte Kinder gehört. Der Nachtwind trägt den Duft des wilden Seidelbasts durch die Büsche und die Blumenkinder neigen die Köpfchen zueinander und träumen von einem tiefen, tiefen Tannenwald und einem großen, gelben Mond, der die Spur aus weißen Kieselsteinen aufleuchten läßt.

Und wer könnte den kleinen Wiesenfleck vergessen, besät mit weißen und blauen Krokussen?

Ich sehe dich mitten in der Wiese stehen, beide Händchen voll Blüten, das Gesicht mit asser Erde beschmiert und die Zöpf- ebea halbgelöst.

Deine roten Maschen lagen im Graben, aber am Abend standen deine Blumen in einer angeschlagenen Schale auf dem Tisch. Krokus, Buschwindröschen und ein Zweig mit silbernen Weidenkätzchen, den du mit den Zähnen vom Strauch genagt hast, denn es gibt nichts Zäheres als Weidenzweige.

Die ganze Familie starrte dich mißbilligend an, aber du saßest ungerührt vor deiner Milchsuppe. Die Zöpfchen standen trotzig von den Schlafen ab wie die Hörner eines Böckleins, rötliche Tränenspuren zogen über deine Wangen und wenn man genau hinsah, konnte man den Abdruck von Mutters schlagfertiger Hand sehen.

Ich kann ja verstehen, daß du die Unzahl deiner verlorenen Haarmaschen vergessen hast, die Erinnerung daran ist zu peinlich. Der Wind hat sie wie riesige Schmetterlinge über die Wiese getragen. Im Tümpel schwammen sie, rot, blau und gelb, und auf den Apfelbäumen hingen sie verblaßt und windzerzaust.

Vögel und Mäuse mögen sie in ihre Nester geschleppt haben, die knisternden Seidendinger.

Und wer dich heute ansieht, möchte kaum glauben, daß du einmal riesige Maschen auf winzigen Zöpfchen getragen hast.

An alle diese Dinge willst du dich nicht mehr erinnern, aber die Veilchen darfst du nicht vergessen haben.

Dort, wo die Wiese in einem steilen Hang zum Bach fällt und die Sonnenstrahlen am längsten liegen, blühten sie zuerst. Wenn man unter der großen Haselstaude mit den gelben Würstchen spielte, trug der Wind ihren Duft in warmen, kleinen Wellen über die Wiese. Sehr genau mußte man schauen, um sie unter den grünen Blättern zu entdecken. Ihr tiefes Violett ließ den lichten Aprilhimmel blaß und ausgewaschen erscheinen.

Viele Leute glauben, wenn sie sich einen Veilchenstrauß in6 Zimmer stellen, den ganzen Frühling eingefangen zu haben. Die Armen kennen nur den traurigen Geruch sterbender Blumen.

Du mußt unter den Haselstauden liegen und nichts spüren als die Frühlingssonne auf deinem Gesicht und das Moos unter deinen Händen.

Dann öffnet sich die Erde und ihr warmer Hauch steigt auf. Dein Herz beginnt schneller zu schlagen und Tränen sickern durch deine geschlossenen Lider.

Das ist der Veilchenduft, ich kann nicht glauben, daß du ihn vergessen hast.

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