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Für kulinarische „Connaisseurs“

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WIEN IST, ABGESEHEN VON DER Inneren Stadt, noch immer eine große Gemeinschaft von Kleinstädten. Man weiß genau, was der Nachbar treibt, und spricht darüber. Man weiß vor allem, was er ißt und noch besser, wieviel er trinkt. Unter den genau beobachtenden Augen der Mitmenschen ist es schwer, den Durst zu stillen. Was tut man, wenn man durstig ist und als kleiner Geschäftsmann von seinen Nachbarn abhängt? Man darf die geehrten Kunden nicht vor den Kopf stoßen. Es geht nicht an, den ganzen Tag in einem Gasthaus zu verbringen und dort zu trinken, bis das Maß voll ist, des eigenen Durstes und der Entrüstung in der Nachbarschaft.

Aber Wien ist eine Stadt der Wirtshäuser, und man braucht nicht weit zu gehen, um ein Achtel zu konsumieren. Ein Achtel hier und das zweite um die Ecke, das letzte schließlich nahe der eigenen heimatlichen Gegend, dies ist die Lösung. Wenn man mitten unter dem anstrengenden Arbeitstag ein Glas trinkt, kann sich niemand entrüsten. Die kleine Tour, das sind etwa acht Beisein und acht Achteln. Die große Tour, das sind dreiundzwanzig Lokale im ganzen Bezirk, dessen Ordnungszahl man beliebig einsetzen kann.

WIEN HAT ZWAR KEINEN BESONDEREN kulinarischen Ruf, dafür aber eine reiche Auswahl an Lokalen, in denen man etwas trinken und essen kann. In der Likörstube, der „Flammenhalle'1, trinkt man Schnaps, zumeist einen Konn oder einen Rum, den die Wirte aus Essenzen selbst zubereiten. In den renommierten Restaurants — und in der Spitzenklasse gibt es deren in Wien etwa eine Handvoll — wählt man aus einer Karte voll französischer Benennungen für Speisen und Weine. Dazwischen gibt es eine ganze Skala von Möglichkeiten, Durst und Hunger zu stillen. Das Cafė-Restaurant verbindet die Kommoditäten der Zeitungslektüre mit der Notwendigkeit, den Hunger zu stillen. Das Kaffeehaus hingegen bietet Hungrigen nur Würstel an, Frankfurter oder Debreziner, und vielleicht noch ein Schinkenbrot und zwei Eier im Glas. Das Espresso wie das Buffet interessieren uns nur am Rande, als Erfindungen moderner Zeiten. Hingegen sind die Verpflegungsmöglichkeiten einiger Konditoreien und Zuckerbäckereien hinreichend auch für Liebhaber anderer als süßer Speisen. Die Zahl derjenigen Betriebe, die primär zur Stillung des Hungers von Touristen oder nur mit einer kurzen Mittagspause versehenen Beamten und Angestellten, ist groß, und es herrscht eine beachtliche Vielfalt unter ihnen, vom Mittagstisch im Abonnement bis zur reichen Auswahl an Menüs komplett mit Suppe und Nachtisch. Wir wollen unsere Aufmerksamkeit vor allem denjenigen Lokalen zu wenden. die ein gewisses Interieur gemeinsam haben, den „Beisein“ schlechthin.

SEIN INTERIEUR BESTEHT AUS einem oder zwei kleinen Räumen zur ebenen Erde, einer Schank mit Wasserwannen, in denen die Weine zwecks Kühlung stehen, und einem großen Kühlschrank, der in brauner Holzzeichnung lackiert ist und aus dem zwei Hähne ragen, fürs dunkle und fürs helle Bier. Auch die übrige Einrichtung besteht vorzugsweise aus Holz, bei Beisein neueren Datums vielleicht auch aus anderem Material, das jedoch stets in der anheimelnden braunen Holzfarbe gestrichen ist. Der Boden besteht aus Brettern, die mit öl eingelassen sind und jedenfalls dunkel bleiben; im Winter sind sie zuweilen mit Sägespänen bestreut. An der Wand befinden sich Bänke, Sessel, meistens Thonetscher Provenienz, stehen um die Hoiztische. Eine schwarze Tafel mit Weinen und ihren Preisen, dann eine handgeschriebene Speisekarte vervollständigen das Inventar.

Es gibt schlechte und gute Beisein. Von letzteren existieren nur wenige und ihre Lage ist ein sorgfältig gehütetes Geheimnis der Stammgäste. Die guten Beisein zeichnen sich durch die Reinheit ihrer Weine aus,

durch die niedrigen Preise auf der Speisekarte, die nur wenige Speisen beinhalten darf. Ein Indiz für gute Beisein ist die Qualität des Rotweins, ein anderes die Konsistenz und der Preis des Rindfleisches, das zumeist als Beinfleisch angeboten wird.

Gute Beisein sind Familienbetriebe. Zuweilen existieren Beisein, die miteinander durch die Qualität und auch im Wirtspaar verwandt sind. Die Wirtin ist für die Küche zuständig, der Wirt für die Getränke und die Bedienung der Stammgäste. Vom Wirt hängt es ja letzthin ab, ob man Stammgast wird oder nicht. Er schafft durch seine Gegenwart hinter der Schank jene Atmosphäre, die einen bis zur Sperrstunde verweilen läßt. Die meisten Beiseln schließen um elf, spätestens um zwölf Uhr nachts, die meisten schließen auch die Küche schon eine Stunde früher.

Die Domäne der Wirtin, die Küche, ist klein und zumeist der Inspektion zugänglich. Die Geschirreinheiten, in denen die Speisen zubereitet werden, sind nicht groß: Töpfe, mittlerer Größe, und Pfannen. Die Wirtin ist dafür verantwortlich, daß es auf der Speisekarte der Beisein ein oder zwei Spezialitäten gibt, ebenso wie der Wirt für den Wein verantwortlich ist, der die Zugkraft auf die Trinker ausübt: den Spezial oder Eigenbau. Einen Weißwein also, der im Preis gleich nach dem Heurigen rangiert. Änderungen in der Bewirtschaftung sind eine Katastrophe, die schwer zu überwinden ist, man verschmerzt schon eher die Schließung eines Stammbeisels, als daß man sich an neue Wirte gewöhnt.

DIE GETRÄNKE, NÄMLICH JENE, die aus Traubensaft gewonnen wenden, sind die Hauptattraktionen der Beisein. Die oberste Forderung, die man an sie stellt, ist ihre Reinheit. Maßgebend dafür ist die sogenannte Zweiliterprobe: Nach

Genuß dieser Menge erwacht man am nächsten Tag mit oder ohne Kopfweh. Die Freiheit von diesem unangenehmsten aller Katersymptome ist ein Maß für die Reinheit des Weines. Freilich sind absolut reine Weine selten und nur bei den wenigsten beliebt. Sie sind nämlich etwas sauer, weil ohne Zuckerzusatz, brechen leicht, weil die Fässer nicht geschwefelt werden, und lassen sich deshalb nicht transportieren. Man bekommt sie nur bei den Weinbauern selbst.

Die Herkunft der Weine ist kein Geheimnis, der Wirt pflegt zumeist den Ort genau zu bezeichnen, manchmal auch nur die Traube, niemals den Weinbauern selbst. Die Weinauswahl besteht zumeist aus drei oder vier Weißweinen, etwa: einem Heurigen, einem Spezial, einem Gumpoldskirchner oder einer Bezeichnung, die den Ort bis auf Quadratmeter genau definiert (Sandgrubn, „Flohhaxn“), und einem Rotwein, einem Blaufränkischen oder Blauburgunder.

Aber hier gibt es viel mehr Gelegenheit, sich untereinander zu unterscheiden, als in der Speisekarte. Ein großes Beisei, das eigentlich nur deshalb noch diesen Namen verdient, weil die Qualität der Weine und die Atmosphäre dafür sprechen, nähe dem Rathaus gelegen — sein Name sei nicht genannt, so manche politische Persönlichkeiten pflegen dort zu verkehren —, hat eine Auswahl von dreiundzwanzig Weißweinen und acht Rotweinen aller Abstufungen zu bieten, von viereinhalb Schilling das Viertel, bis zu vierzehn Schilling. Die Beiselweine stammen vorzugsweise aus drei Gegenden Niederösterreichs: der Gegend entlang der Brünnerstraße, der Gegend von Krems bis Poysdorf und dem Gebiet zwischen Gumpoldskirchen und Baden. Unter den Rotweinen, bei denen als Maßstab der Qualität die sogenannte Trockenheit entscheidend ist, ist Burgenland häufiger

vertreten. Bei Wirten, die selbst Weine ziehen und keltern, heißt die Vorzugsmarke Eigenbau. Bis Ende November kann man zwei Vorstufen des Wein genießen: den süßen Traubensaft, kurz Most genannt, und den bereits alkoholhaltigen, gärenden Traubensaft, den Sturm. Im Sturm darf es Satz nur auf dem Grund des Glases geben, er darf nicht süß, aber auch nicht sauer sein und muß ein wenig nach Seife schmecken.

WAS MAN IN DEN BEISELN ZU ESSEN bekommt, kann man unter

der Bezeichnung „Wiener Küche“ zusammenfassen. Die ist selbst nicht frei von böhmischen und ungarischen Einflüssen; manche sagen auch, davon abhängig. Die Speisekarte, zumeist im Kopfentwurf auf Namen und Wirt des Beisels hinweisend, hat acht vorgedruckte Abteilungen: Suppen, kalte . Speisen, Beilagen, Salate, fertige Speisen, frischgemachte Speisen, Mehlspeisen und Kompotte, Käse. In ihrer typischen Zusammensetzung weist sie

etwa an Suppen auf: Leberknödelsuppe, Fridattensuppe, Backerbsensuppe; an kalten Speisen: Sardellenringe, Wurst in Essig und Öl, Salami, Haussulz, Hauspreßkopf ; als Beilagen: Reis, Heurige, Knödel; als Salate: Krautsalat, Gemischter, Grüner und Mayonnaise. Fertige Speisen sind zumeist: Krenfleisch, Beinfleisch, Schweinsbraten, Wurzelfleisch, Gulyas, Bratwürstel; frischgemacht müssen werden: Wiener Schnitzel, Naturschnitzel, Leber geröstet und gebacken, Hirn mit Ei oder gebacken, Bries gebacken. An Mehlspeisen hat man die Wahl

zwischen Haustorte und Palatschinken, an Käse zwischen Emmentaler, Camembert und Edamer.

Ein richtiges Beisei zeichnet sich zumeist auch durch die Abwesenheit einer Espressomaschine aus; deren Anwesenheit in kleiner Abmessung ist jedoch nicht unbedingt ein Hinweis auf mangelnde Beisel- qualität. Dieses Schema läßt freilich viele Ausnahmen zu, und die Spezialitäten der Beisei ermöglichen eine breite Variation der täglichen Ausflüge: In der Wiener Lerchenfelder Straße ist eines durch seine gefüllten Kalbsbrüste und Kalbsnierenbraten bekannt, nicht weit davon eines anderes durch seine Grammelknödel. Ein typisches Bei- selgericht für Kenner — leider viel zuwenig anzutreffen — ist das Kalbsbeuschel. In einem anderen Bezirk ist ein Beisei zu finden, das nicht nur ein hervorragendes Wurzelfleisch zu bieten hat, sondern auch billige, durch den Wirt selbst gepflegte Rotweine. Auch dem Zentrum der Bundeshauptstadt ermangelt es trotz großstädtischen Charakters nicht an Beisein, deren eines für seine gebackenen Innereien bekannt ist, ein anderes für sein Rindfleisch, ein drittes für seine Knödel mit Ei und Häuptelsalat. Stelze, Gansl und Ente, zuweilen Hase und Reh, meistens auch Backhuhn oder Brathuhn, ergeben in preislicher, doch nicht unbedingt qualitativer Hinsicht, die kulinarischen Höhepunkte der Beiselspeisekarte. Die typischen Beiselpreise bewegen sich zwischen acht und achtzehn Schilling. Zwanzig auf der Preisliste für Speisen und acht für Weine sind die Scheidemarke.

DAS PUBLIKUM DER BEISELN IST ANGESTAMMT. Freilich kann man in mehreren Beisein Stammgast sein, zumeist ist man es jedoch nur in einem, darin man Abend für Abend verbringt. Zu den meisten Beisein gehören Stammtisch und Sparverein. Es gibt jedoch solche, deren Inventar nur aus Stammtischen besteht.

Die Benennungen sind verschieden, man kennt die Beisein jedoch meist nach dem Namen der Wirte, nicht der Lokale. Eine Typologie beider Benennungsweisen verbietet sich jedoch von selbst, würde sie doch nur zur unzulässigen Vermehrung der Stammgäste in Lokalen führen, die ohnehin zu klein sind und außerdem nur fünf Tage in der Woche offenhalten. Die beiden restlichen Tage führen bei den Stammgästen zu allwöchentlichen, zumeist auf Samstag und Sonntag fallenden Depressionen. Denn: die besten der Wiener Beisein mit ihren Weinen und Speisen sind edelstes Ergebnis Wiener Kultur. Es ist eine Gaststätte für „Connaisseurs“.

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