"Für sich einstehen und die Würde verlangen"

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"Neu ist vieles: Wie sieht eine Literatur der Zukunft aus, vielleicht verfasst von 'technischen Aliens' in der Art eines 'kybernetischen' Erzählens?"

Während Marlene Streeruwitz als Gastdozentin an der Universität Paderborn ihre dritte Poetikvorlesung hält, wird sie plötzlich durch einen Zwischenruf unterbrochen: "Was soll denn das alles. Hier." Applaus. Eine provokante Poetik? "Wir werden in diesen Vorlesungen Literatur sprechen und nicht über Literatur reden." Was Streeruwitz zu Beginn verkündet, hört sich programmatisch an und macht neugierig, weil Ungewöhnliches zu erwarten ist -von einer der markantesten und bedeutendsten Stimmen der österreichischen Gegenwartsliteratur.

Neu ist vieles, auch wenn natürlich mitunter über Literatur gesprochen wird. Marlene Streeruwitz denkt nicht nur über ihre ästhetischen Positionen nach, sondern blickt auch über den literarischen Horizont hinaus: Wie sieht eine Literatur der Zukunft aus, vielleicht verfasst von "technischen Aliens" in der Art eines "kybernetischen" Erzählens?

Die Poetikvorlesungen "Das Wundersame in der Unwirtlichkeit" tragen in Anlehnung an Andersens "Schneekönigin" allesamt den gleichen Untertitel. "Frozen I" beginnt eigentlich wie ein Roman. Der Kauf von Blumen und einer Torte in New York führt zu einer seltsamen Geburtstagsfeier. Acht Menschen haben durch die Organspende eines verunglückten jungen Mannes ein neues Leben bekommen, das sie einmal im Jahr bei den Eltern des Toten feiern.

Warendenken der Moderne

Schon vor Jahren hat sich Streeruwitz im Kontext ihres Romans "Lisa's Liebe" literarisch mit Organtransplantationen auseinandergesetzt. Hier geht sie den vielen offenen Fragen im Zusammenhang mit dem "industriellen Sterben" nach, das sie in einer literarischen Spiegelung als "Warendenken einer kapitalistischen Moderne" entlarvt. Wie kann es heute vor dem Hintergrund der "Autonomie der literarischen Figur" erzählbar gemacht werden? In einer messerscharfen Analyse rauscht Streeruwitz durch die österreichische (Literatur-)Geschichte des 20. Jahrhunderts, in der es um das Existentielle in der Literatur, um gesellschaftliche Moral, Gewalt, Tabubrüche, Erziehung oder um die Sprache der Geschichtsschreibung geht. Das Ausschließen derer, die "keinen Platz haben dürfen", führt zurück zur "Explantation" im OP, zur Würde, die einer Person zuteil werden muss.

Nach der Auseinandersetzung mit Ingeborg Bachmanns Roman "Malina" und einem Ausschnitt aus ihrer eigenen Gothic Novel "Norma Desmond" belichtet Streeruwitz die "Industrialisierung von Kreativität" auf der Basis der "digitalen Revolution". Im Fokus steht die Walt Disney-Produktion "Frozen" nach der Vorlage der "Schneekönigin". Anhand der filmischen Aneignung des Märchenstoffs durchforstet Streeruwitz Erziehungsmuster, Weiblichkeitsimaginationen und Rollenzuschreibungen, indem sie aufzeigt, wie die Protagonistin in dieser Traumfabrik zum Spielball des Marketings für sämtliche "dramaturgische Schachzüge" wird - durchwegs bestimmt von der Ökonomie: "Glatte entleiblichte Erscheinung, die sich anmutig in ihr Schicksal schmiegt, das ihr vorgegeben ist. Politik. Weltanschauung. Immer wird sie daran erläutert, wie Frauen leben sollen."

Und was an Wundersamem dürfen wir uns in unserer unwirtlichen Welt für die Literatur erwarten? Jedenfalls das Ende "dieser Welt der Literatur", weil "neue Zeiten anbrechen". Auch "technische Aliens", über deren "basale Erinnerung" man noch nichts weiß, könnten "Romane schreiben".

Was aber ist mit der "Wahrnehmung", der "Verantwortung" und vor allem mit der "politischen Untersuchung"? Vehement plädiert Streeruwitz für den Erhalt aller "Ebenen der Versprachlichungsmöglichkeiten", weil sie Literatur als "Archiv einer Nachträglichkeit" sieht. Zurecht schreibt sie der Literatur eine gesellschaftskritische Rolle und eine politische Funktion zu, für die in den Texten der Zukunft wohl erst eine Ausdrucksform gefunden werden muss.

In ihrem Roman "Yseut" blieb Streeruwitz all diesen Anliegen treu. Bereits der Beginn zeigte das Sehnsuchtsland Italien äußerst schräg, dunkel und kriminell, trotz einer zunächst fast romantisch anmutenden Ouvertüre mit "kühlblauer Lagune" und schaukelnden Fischerbooten. Mit einer rasanten Autofahrt eröffnete Streeruwitz ihren "Abenteuerroman in 37 Folgen", den sie, wie im Klappentext nachzulesen ist, "anstelle einer Autobiografie" geschrieben hat.

Eine ganze Person sein

Im Mittelpunkt steht die über 60-jährige Sprachwissenschaftlerin Yseut, deren Namen nur der Vater richtig ausspricht. Auch sonst wächst sich ihre Kindheit gemäß der traditionellen patriarchalen Sozialisierung in der damaligen Zeit zu einem bereitwilligen Fügen in festgeschriebene Rollenbilder aus. Yseut verschwindet in den Erwartungen der anderen, verliert sich selbst. Eine Italienfahrt zur Klärung persönlicher Fragen? Yseut hat bislang ein buntes, ja bewegtes Leben geführt und einige gescheiterte Beziehungen und Ehen hinter sich. Sie muss lernen, "was es bedeutet, eine Person sein zu wollen. Eine ganze Person ... Für sich einstehen und die Würde verlangen". Ein mehr oder wenig pragmatischer Heiratsantrag stößt ein grundsätzliches Nachdenken über ihr Leben an.

In Italien gerät Yseut mitten in ein abenteuerliches Komplott hinein, mit dem Streeruwitz auch aktuelle Probleme wie den Menschenhandel mit illegalen Flüchtlingen verknüpft. Yseut findet sich plötzlich in einer undurchschaubaren, gefährlichen Mafiafehde wieder. Die Handlung schwebt, bricht, verwinkelt sich, mäandert sich durch Dunkles und Geheimnisvolles.

Dabei verknüpft Streeruwitz das Kaleidoskop individueller Lebensfragen gewandt mit gegenwärtigen Herausforderungen der Gesellschaft. Der Überwachungsstaat ist eine davon. Auch Spuren der österreichischen Nazi-Vergangenheit schwappen in Yseuts Leben. Erzähltechnisch webt Streeruwitz mit dem alternierenden Blick auf Gegenwart und Vergangenheit kunstvoll eine komplexe Struktur in den Roman.

Anhand dieses flexiblen Changierens zwischen den einzelnen Lebensstationen ihrer Protagonistin entfaltet Streeruwitz präzise ein Wegstück weiblicher Individuation, die hinführen soll zum eigenen Sichtbarwerden. Wieder liegt der Finger in der Wunde. Aber Yseut weiß: Der Preis der Liebe ist hoch.

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