Shashi Tharoor erzählt das Leben des Pandit Nehru.
Indien ist kein Land und keine Nation ... Es ist lediglich ein geographischer Begriff. Es ist so wenig ein bestimmtes Land wie der Äquator", behauptete der Indien-Hasser Churchill. Er hatte die gleiche englische Elite-Schule, Harrow, besucht wie jener Inder, der den Subkontinent zu einer Nation schmiedete: Jawaharlal Nehru, genannt Pandit (=brahmanischer Gelehrter) Nehru. Ihm widmet der indische UN-Diplomat mit Ambitionen auf den Posten des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, Shashi Tharoor, eine neue Biographie: "Die Erfindung Indiens. Das Leben des Pandit Nehru." Sein Versprechen an den Leser: "Das Buch will eine neue Interpretation eines außergewöhnlichen Lebens und des Vermächtnisses Nehrus bieten."
Außergewöhnliches Leben
Tharoor erzählt chronologisch, wie der junge Mann (geb. 1889) aus reicher Familie sieben Jahre lang in England eine hervorragende Ausbildung (Cambridge/London) zum Juristen bekam, um sich nach seiner Rückkehr nach Indien als Verbündeter Gandhis dem Hinauswurf der Briten zu widmen. Für seine unbeugsame Haltung sperrten ihn die Briten insgesamt zehn Jahre ins Gefängnis, die er dazu nützte, Bücher zu schreiben, in denen er seine Vision von einem demokratischen, geeinten Indien formte (neben den ihm auferlegten Arbeiten: Putzen, Wäschewaschen, Gartenarbeiten). Nehru hatte zwei Väter, seinen leiblichen, der den Sohn in seinen politischen Bestrebungen unterstützte, und Gandhi, dessen ungeduldiger politischer Ziehsohn er war.
Nehru war weltoffen, mehrsprachig, unersättlich wissensdurstig, von demokratischen Idealen geleitet und doch kompromissfähig. Seine Anziehungskraft auf die indischen Massen hätte ihn leicht zur Diktatur verführen können, doch erlag er nie dieser Versuchung, ebenso wenig wie sich der Hindu Nehru zu einem Volksgruppendenken gegenüber der muslimischen Minderheit in seinem Land hinreißen ließ.
Wenig geblieben
Klar arbeitet Tharoor heraus, was von Nehrus vier Säulen-System bis heute geblieben ist: wenig. Die demokratische Struktur hat das Riesenland, das er 1947 in die Unabhängigkeit führte, leidlich - man denke an die allgegenwärtige Korruption - behalten. Nehrus Forderung nach strikter Trennung von Religion und Politik, sein Säkularismus also, wird durch die Hindus immer stärker untergraben. Nicht von einer indischen Identität ist heute in Indien die Rede, wie sie Nehru vorschwebte, sondern von einer Hindu-Identität. Sein Prinzip der Blockfreiheit Indiens ist bedeutungslos geworden, seine Fehler im Kaschmir-Konflikt wirken noch immer nach. Als verheerend entpuppte sich Nehrus linke Wirtschaftspolitik. Sein Glaube, der Staat müsse die Industrie lenken, hat Indien Jahrzehnte der Armut, Stagnation und Leistungsschwäche gebracht. Sozialismus ist heute in Indien ein Schimpfwort.
Wenig lebendig
Weniger überzeugend als die Analyse des Vermächtnisses Nehrus ist Shashi Tharoors Darstellung des Charakters dieses Mannes, der die Teilung Indiens nicht verhindern konnte und als müder 75-jähriger Premierminister 1964 starb. Weder gelingt es dem Autor, den Zauber der widersprüchlichen Persönlichkeit Nehrus einzufangen, noch seine Beziehung zu seiner Tochter Indira lebendig zu machen. Im Alter nannte Churchill Nehru anerkennend "das Licht Asiens"; nach zehnjähriger Amtszeit als erster Premier Indiens erhielt er die höchste zivile Auszeichnung der Nation, den "Bharat Ratna", den Ehrentitel "Juwel Indiens". Doch die Tragik seines Lebens, Indien als geteiltes Land in die Freiheit geführt zu haben, mit einer Million Toten und 17 Millionen Flüchtlingen, die auf die "richtige" Seite - als Muslims nach Pakistan, als Hindus nach Indien - gelangen wollten, diese Tragik arbeitet Tharoor kaum heraus. Viele Seiten lang rückt er die verworrenen Kämpfe der indischen Nationalisten untereinander in den Vordergrund, während er die Beziehung des Witwers Nehru zur Frau des letzten britischen Vizekönigs, Edwina Mountbatten, ein Schmankerl für jeden Biographen, seltsam verschwommen beschreibt. Nehru hätte eine packendere Darstellung seines außergewöhnlichen Lebens verdient.
Die Erfindung Indiens. Das Leben des Pandit Nehru
Von Shashi Tharoor
Aus dem Engl. von Peter Knecht
Insel Verlag, Frankfurt 2006
312 Seiten, geb., e 20,40
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