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Garnison: Ostgalisien

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Nunmehr ist schon die zweite Generation herangewachsen, die das Leben in der weiträumigen Donaumonarchie nur noch aus Erzählungen der Altgewordenen kennenlernt. Da diese Schilderungen unerwartet großes Interesse finden, möchte ich einige wiedergeben — sind sie doch ein bescheidener Beitrag zur Kulturgeschichte.

Erstaunt erfahren die Jungen, daß vor fünfzig Jahren ein „Federstrich“ des Ministeriums genügte, um einen Offizier aus dem westlichen Kulturkreis, z. B. aus dem aufblühenden Innsbruck, in ganz fremdartige Verhältnisse, etwa ein süddalmatinisches Fischerdorf oder an Ost-galiziens Grenze, zu versetzen. Das war zwar für den Betroffenen nicht gerade erfreulich, aber im Interesse der Einheit der Wehrmacht zwingend nötig; auch gab es ja viel zuwenig Offiziersanwärter polnischer, ruthenischer, rumänischer, italienischer Muttersprache.

Als ich mich in der neuen Garnison, wenige Kilometer von der Grenze des Zarenreiches, beim Regimentskommandanten meldete, bat ich ihn zu seiner Ueberraschung, mich nur zu jüdischen und griechisch-orthodoxen Feierlichkeiten zu kommandieren, ich wolle mich bemühen, fremde Gebräuche kennenzulernen. ..Herzlich gerne bewilligt!“

So gewann ich Einblick in eine ungewohnte Welt. Die Bevölkerung bestand zu vier Fünfteln aus Juden, daneben gab es einige polnische Beamte und ukrainische Dienstboten. Aber nicht Juden, wie ich sie aus der Wiener Leopoldstadt kannte. Nein! Freilich lag der gesamte Handel in jüdischen Händen. Um auch beim Absatz der von den Bauern gelieferten Landesprodukte (Geflügel, Eier, Butter usw.) zu verdienen, übernahmen z. B. jüdische Händler an den Ortseingängen die Waren zu ..Kartellpreisen“ (was ihnen der Koch unserer Offiziersmesse, aber auch mein Offiziersdiener nachmachten, so daß Eier um 2 Heller, Backhühner um 50 Heller erstanden werden konnten). Die Märkte waren daher fast nur von einigen in der Nähe angesiedelten Volksdeutschen Bauern beschickt.

Aber außer den Händlern gab es in der Umgebung auch jüdische Bauern und Landarbeiter, in der Stadt Handwerker aller Sparten, zum Teil in ärmlichsten Verhältnissen. Ein Flickschuster bewohnte einen einzigen Raum, den er mit seiner Frau, einigen schwarzgelockten Buben und einer Ziege teilte. Arbeitsraum: die Gasse vor seiner Hütte. Daher: „Den Doppler kann ich Ihnen morgen abend liefern, wenn es nicht regnet, sonst später.“ „Ja, wovon leben Sie im Winter?“ „Da darf ich beim Herrn Bezirksrichter Holz hacken und Kohle bringen.“

Polnische und ruthenische Handwerker gab es nicht, einen Fleischhauer ausgenommen, der die Garnison und die wenigen christlichen Konsumenten belieferte. Denn diese lehnten rituell „geschächtetes“ Fleisch ab (obwohl es auch von ihnen in den Gaststätten ohne weiteres verzehrt wurde).

Einen „Beruf“ lernte ich bei meiner Wohnungssuche kennen, den des „Faktors“. Ich wollte von einem jüdischen Arzt zwei Zimmer mieten. „Sie wären mir sehr willkommen, Herr Leutnant, aber an Sie kann ich die Zimmer nicht abgeben!“ „Warum?“ „Sehen Sie vor dem Fenster den Faktor? Geben Sie ihm vier Kronen, dann vermittelt er die Vermietung. Andernfalls werden die Zimmer nie mehr vermietet werden, wenn Sie ausziehen!“ Ich fügte mich und bezog die Zimmer. So hatte ich „meinen“ Faktor, der mir jede Beschaffung gegen geringes Entgelt besorgte. Freilich enttäuschte ich ihn manchmal.

Auffallend waren Namen wie Kanalgitter-bestahdteil oder Zitronenscheibe. Als unter Kaiser Josef auch die Juden gezwungen wurden, Familiennamen anzunehmen, leisteten sich manche Beamte solche Scherze.

Auf erschreckend tiefem Kulturniveau standen die Ruthenen und Huzulen. Von den Rekruten waren die Hälfte Analphabeten. Freilich war es in den stellenweise noch Urwaldcharakter aufweisenden Waldkarpaten schwer, die Kinder der weitverstreuten Bergbauern in eine Schule zu bringen. Und „Wanderlehrer“, wie Jahrzehnte vorher in den Alpen, gab es nicht. Zudem lag den (polnischen) Bezirksbehörden meist wenig an der Schulbildung der Bevölkerung.

Aber auch die Heeresverwaltung überließ es leider der Initiative einzelner Offiziere, den Soldaten während der zwei- oder dreijährigen Militärdienstzeit Lesen und Schreiben beizubringen. Als ich eines Abends in einer Ecke des spärlich beleuchteten großen Mannschaftszimmers mehrere Soldaten bemerkte, die beim Licht einer Kerze einem Zivilisten Briefe an ihre Mutter diktierten (der hierfür die dreitägige Löhnung einkassierte), besprach ich mit dem Rechnungsunteroffizier (einem Deutschböhmen im 12. Dienstjahr) die Errichtung eines Abendkurses, um die Soldaten lesen und schreiben zu lehren. Fast alle Analphabeten meldeten sich hierfür freiwillig, und ich staunte über die Aufnahmefähigkeit der Schüler, die schon nach einigen Monaten imstande waren, ihren Angehörigen kurze Briefe zu schreiben. “

Unvergeßlich ist mir ein Erlebnis geblieben, das ich als kennzeichnend für den guten Willen der von der Regierung zugunsten der Polen vernachlässigten Ruthenen anführen möchte. Eines Tages wird mir gemeldet, daß mich eine Frau zu sprechen wünsche. In schmucker rot-gelber Landestracht überreichte mir auf dem Gange der Kaserne die Mutter eines meiner Rekruten einen Korb Eier. Ich verstand sie nicht, ein Dolmetsch sagte mir, sie habe sich über den ersten eigenhändig geschriebenen -Brief ihres Sohnes so unbändig gefreut, daß sie mir bringe, was sie habe. Mir standen vor Freude die Tränen in den Augen — und die Kompanie bekam am Abend Eiernockerln. Als ich ein paar Monate später die Garnison verließ, da waren alle meine braven Zehn auf dem Bahnhof, jeder brachte mir ein paar. Feldblumen und einen mit Stolz eigenhändig geschriebenen Brief: „Viel Glück für die Zukunft“ (natürlich ruthenisch).

Als ich nach kurzer Zeit die zur Verständigung nötigen etwa 300 Worte Ruthenisch gelernt hatte, verbrachte ich jeden Sonntag droben in den Waldkarpaten und unterrichtete mich über das Leben der armen Huzulen. An der Tür des einzigen Raumes, den die strohgedeckte Hütte aufwies, hing ein selbstverfertigter Schafpelz, der abwechselnd von Mann und Frau verwendet wurde. In der Mitte des Raumes ein offener Herd — Holz gab's ja genug. Die Nahrung: Maisbrei (Mamaliga), selbstgebackenes Maisbrot, Schaf- und Ziegenkäse. Es gab Rekruten, die wir an den „vorgeschriebenen“ Fleischgenuß erst gewöhnen mußten. Knödel — die von den zwecks Ausbildung zum Unteroffizier aus Mähren zutransferierten Soldaten verlangt wurden — lehnten sie ab, beharrten auf ihrer Mamaliga.

Zur Erntezeit begegnete ich einige Male Leiterwagen, neben dem Kutscher ein „Faktor“, dahinter zehn bis zwölf Landarbeiter. Diese armen Kerle hatten, als ihre unzureichende Ernte verzehrt war, beim Krämer für Mais oder Brot Scheine unterschrieben, die sie für einige Wochen zur Arbeit auf einem Großgrundbesitz verpflichteten. Nun wurden sie zur Einlösung ihrer Schuld abtransportiert. Ernste Besprechungen mit dem (polnischen) Bezirkshauptmann, vom Regimentskommandanten verfaßte Eingaben an die Statthaltern in Lemberg blieben wirkungslos.

Nur einen geringen Bruchteil der Eindrücke und .'ebnisse an Rußlands Grenze konnte ich vorstellend wiedergeben. Die Schilderung soll die damaligen Zeitgenossen daran erinnern und der jungen Generation einen Einblick gewähren, wie interessant — aber auch wie schwierig — es für einen jungen Deutschösterreicher war, sich in einem ihm völlig fremden Kulturkreis zurechtzufinden. Wie sehr die Verpflanzung westlicher Kulturträger an die Grenzen des Reiches zur Hebung der Kultur, zur Schaffung eines „österreichischen“ Staatsgedankens beigetragen hat, möge ein hierzu Berufener schildern. Mit tiefer Wehmut erkennt heute jeder, der damals mitgetan hat, daß seine Mühe nach kaum vierzig Jahren vergeblich War.

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