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Gedanken aus einem Tagebuch

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Das ist der Sinn des „natürlichen“ Lebens im Individuum: daß das Individuum sein Leben „weitergebe“. Und der Sinn des geistigen Lebens? Daß das Individuum seine ganze Existenz in die Hand Gottes gelegt wisse? Was denn auch sonst, wenn nicht das? Und ist das aber am Ende nicht auch ein „Weitergeben“ des Lebens? Oder richtiger: ein „Zurückgeben“, ein Zurückkehren des Lebens dorthin, woher es gekommen ist. Alles natürliche Leben strebt von seinem Ursprung hinweg und findet darum niemals zu ihm zurück.

Ein Mensch, der es unternimmt, sein Leben geistig nach dem Leben Jesu hin zu orientieren, der „setzt“ die Zeit in die Realität.

... Das Ich ist in einem Kerker eingesperrt, dessen Mauern nur dadurch zerbrochen werden könnten, daß das Du, durch das es existiert, zu ihm kam. Hierin liegt die Bedeutung des Lebens Jesu. Denn Jesus hat den Menschen den Weg zum Du gehen gelehrt. Und er selber war und ist, nach seinen eigenen Worten, dieser Weg, der Weg, der den Menschen zum Leben führt.

... Ich bin so beschaffen, daß ich es eigentlich niemals werde begreifen können, wie ein Mensch an seiner Phrase nicht ersticke.

In all seinen Erlebnissen glaubt der Mensch, dem Gefängnis seines Ichs entrinnen zu können — und bleibt doch immer wieder hinter dessen Mauern eingesperrt. Sehnsüchtig sucht das Ich sein Du, denn ohne dieses Du kann es selber nicht bestehen, das ahnt es wohl — und merkt in seinem Verlangen nicht, daß dieses Du nicht außerhalb seiner selbst, des Ichs, lebt, sondern in ihm, im Ich selbst. Muß nicht der Augenblick, wo das Ich dies mit einemmal einsieht, zugleich auch der seiner Erlösung aus seinem Gefängnisse sein? .

Ein wirklich religiöser Mensch kann niemals ein unbedeutender Mensch sein. Wie sollte es auch anders sein? Wie sollte nicht das Gott-verbältnis eines Menschen seinem Leben, seiner Existenz in der Welt Bedeutung, unendliche Bedeutung verleihen? Ein wirklich religiöser Mensch wird immer, wenn auch oft nicht nach außen hin, so doch nach innen, ein außergewöhnliches, ein wahrhaft außerordentliches Leben leben. Ein Leben, das nicht in der Banalität des Daseins untergeht.

Die Menschen würden viel bessere Menschenkenner sein, wenn sie sich nicht in einem fort durch die Eitelkeit und den Egoismus täuschen ließen. .

Die Erkenntnis der Sünde muß etwas sein, das die ganze Existenz des Menschen bis in ihre letzten Wurzeln hinab erschüttert. Solange das nicht der Fall ist, wird der Mensch nicht imstande sein, sein Leben auch von innen her geistig auf Gott und seine Gnade zu stellen. In der letzten Erschütterung seines Daseins, die dem Menschen den natürlichen Grund und Boden gleichsam unter den Füßen wegzieht, wird ihm auch Gott offenbar. Und diese Erschütterung ist und kann nichts anderes sein als Erkenntnis der Sünde. Wie aber will der Mensch ohne die Gnade Gottes die Sünde erkennen?

Wir leben in der Zeit, hat eine doppelte Bedeutung. Denn das heißt entweder, daß wir dem Tode entgegengehen oder dem ewigen Leben.

Das wahre Ich im Menschen ist sein inneres Ohr, das das Wort aufnimmt.

Das Wort ist das Band zwischen dem Ich und Du.

Im Wort ist Vernunft, und es spricht zur Vernunft.

Das wahre Wort ist nicht von dieser Welt.

Hat nicht die Liebe das erste Wort gesprochen?

Der Weg zum wahren Du im andern Menschen führt durch die innere Einsamkeit. Aber es ist die Schuld des Menschen, daß er diesen Weg gehen muß.

Ist es nicht das Wunderbare am Evangelium, daß es, bei aller Unbedingtheit seiner ethischen Forderung am Menschen, auch für den sozusagen „Unwürdigen“ die nie versagende Quelle des Trostes ist, in welchen Nöten immer auch der Mensch sich befinden mag?

Aus der Tiefe seines Verhältnisses zu seinem Charakter ruft der Mensch zu Gott.

Es muß jeder den Tod, der ihn wie alle anderen erwartet, in seinem Leben schon vorweggenommen haben, in seinem Leben schon ihn gestorben sein, wenn er zum Leiden seines Daseins das einzig richtige Verhältnis einnehmen soll. Je weniger ihm dieses Dasein an Leiden erspart, desto mehr wird ihm gleichsam äußerlich die Hilfe geboten, in dieses Verhältnis innerlich einzugehen. Und so hat er ja tatsächlich die Unaufhörlichkeit und Unerbittlichkeit des Leidens dem Himmel zu danken. Bin ich schon so weit?

Hierin liegt der Sieg der Liebe. Daß man im Gegenstand der Liebe sein eigenes Leben liebt, die Steigerung und gleichsam Höherentwicklung seines Daseins ...

... In einer dem Wortlaut nach auch richtigen Liebeserklärung kann es immer nur heißen: In Dir liebe ich mein Leben...

Aus den Tagebüchern Ferdinand Ebners, herausgegeben von Hildegard Jone in der Thomas-Morus-Presse, Verlag Herder, Wien,

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