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Gedanken eines hilflosen Europäers

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DER DEUTSCHE MENSCH ALS SYMPTOM von Robert Muall, nach einer Textbearbeitung; von Albertson Cortno. Rowohlt-Verlar Reinbek. 7 Selten. DM 1.80.

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DER DEUTSCHE MENSCH ALS SYMPTOM von Robert Muall, nach einer Textbearbeitung; von Albertson Cortno. Rowohlt-Verlar Reinbek. 7 Selten. DM 1.80.

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Mit Genehmigung des Rowohlt-Verlages legt das Robert-Musil-Archiv, Klagenfurt, anläßlich der in Genf veranstalteten Gedächtnisausstellung zum 25. Todestag des Autors das von Robert Musil 1923 verfaßte Essay „Der deutsche Mensch als Symptom“ der Öffentlichkeit vor.

Wenn auch diese kleine Schrift innerhalb des bis jetzt veröffentlichten Gesamtwerks Musils vielleicht keine überragende Stellung einnimmt — viele der darin angeschnittenen Themen werden dem Leser vor allem aus dem 1961 bei Piper erschienen Essay „Das hilflose Europa“ bekannt sein —, so trägt diese Veröffentlichung doch dazu bei, das Werk Musils zu erschließen und damit einen Schritt weiter zu jener „restitutio in integrum“ zu tun, die schließlich noch allen großen Söhnen Österreichs posthum beschieden war.

Musil, der in seinem Urteil selbst sehr zurückhaltend war und als einzigem Dichter wohl nur Rilke uneingeschränktes Lob zollte (im Gefühl dieses großen Dichters ist alles Gleichnis und nichts mehr nur Gleichnis), befand sich während der Niederschrift seines Romanes in einer erschütternden Isolation, deren Stachel nicht sosehr die finanzielle Bedrängnis als vielmehr die geringe Beachtung war, die man damals dem gewaltigen Romanexperiment und seinem sich das letzte abverlangenden Autor entgegenbrachte.

Heute darf man wohl ohne Übertreibung für Musil selbst die von tiefer Anerkennung zeugenden Worte gebrauchen, die er für Rilke fand und ihn als einen Sucher bezeichnen auf dem Weg „von dem religiösen Weltgefühl des Mittelalters über das humanistische Kulturideal zu einem neuen Weltbild“. Wie sehr das „Neue“ zum Angelpunkt aller Überlegungen wird, zeigt das eben veröffentlichte Essay. Die Bereitschaft, in der Problematik der Gegenwart vor allem die neue Problematik und nicht eine Fehllösung, den neuen Geist und nicht den Ungeist zu sehen, hebt Musil über seine Zeitgenossen hinaus, auch über den erfolgreicheren Thomas Mann, der letztlich längst vorgezeichnete Koordinaten noch einmal zog und damit auf einem künstlichen Spannungsfeld experimentierte. Neben der messerscharfen Analyse verschiedener Zeitumstände — so des beginnenden Pluralismus, des Kapitalismus (einer Auseinandersetzung mit dem Sozialismus geht Musil aus dem Weg, es sei denn, daß er in ihm das nach vorne Strebende, Progressive innerhalb der die Entwicklung bestimmenden Kräfte sieht. — Hier haben sich die Umstände gewandelt!) kreisen seine Gedanken immer wieder um die Bestimmung einer neuen Welterfahrung, der er mit dem heute schon zum Schlagwort gewordenen Tatsachengeist die Zukunft eines hilflosen Europa anheimstellt, zu dessen geistigem Dilemma das bereits vor dem zweiten Weltkrieg angekündigte Begräbnis des Humanismus zugunsten einer in selbstgenügsamer Faktizität erstarrenden Wissenschaft-Ii chkedt gehört...

Die Steigerung dieser Entwicklung bis zur totalen Ausschaltung des Menschen etwa im Dingroman der Moderne oder dem Strukturalismus in der Wissenschaft konnte Musil noch gar nicht vorausahnen. Wohl aber das Unbehagen. So etwa wenn er im „hilflosen Europa“ vor dem Ausbruch des Krieges warnt, als Flucht vor dem Frieden, als Sehnsucht nach Feuersbrunst, Erdbeben und Gefühlsstürmen, vor dem metaphysischen Krach als unbefriedigten Rest. Und vollends zum Rätsel, zur „Fall Musil“ wird der Verfechter des Tatsachengeistes, der Gegner des Idealismus auf allen Linien („Ich will nicht Philosophie treiben — Gott behüte mich in einer so seriösen Zeit“), wenn er in einem gewagten Sprung sich selbst und seiner Zeit den Rücken kehrt, um in jahrelanger Arbeit und Entbehrung sein einsames Experiment zu beginnen.

Ähnlich wie in den heiligen Gesprächen seines Romanes versucht Musil in der abschließenden Studie seines Essays in immer neuen gedanklichen Kreisbewegungen und theoretischen Formulierungen sein Denken gleichsam hineinzubohren in Dimensionen, wo, seiner gefühlsmäßigen Sicherheit gewiß, das eigentliche Menschsein beginnt.

So stellt sich das Musilsche Grundthema auch hier, in dieser Schrift als ein erregendes Abenteuer dar, als ein Versuch, den Menschen dort wiederzuentdecken, wo man ihn mit Freud längst aus den Augen verlor.

Um so mehr ist es zu bedauern, daß diese Ausgabe als Sonderdruck erschien und daher einem größeren Interessentenkreis nicht zugänglich ist. Wie sehr man dies in Österreich bedauert, möge hiermit nachdrücklich ausgesprochen sein und den Verlag ermutigen, an eine Neuauflage zu denken. Trotzdem bleibt diese Veröffentlichung ein literarisches Ereignis, dem nicht nur im Ausland, sondern auch in Österreich vollste Aufmerksamkeit gebührt.

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