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GEDANKEN IN DER NACHT

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Es gibt gewiß amüsantere Dinge zu schildern als die Gedanken eines Pfarrers, wenn er nach der anstrengenden Installation und allen anschließenden mehr weltlichen Feiern nachzudenken beginnt.

Solche Gedanken können den Schlaf rauben, die Nacht ausdehnen und Angst schaffen, wo anfangs keine war. Michael Daun hatte gedacht, eine Pfarre von vierzehntausend Seelen zu übernehmen, von vierzehntausend getauften Christen, und nun schien es ihm, als hätte er nur ein Bündel Vereine und Vereinchen übernommen, die zum Teil in wütendem Gegensatz zueinanderstanden und sich insgesamt gegenüber den anderen herausnahmen, näher bei Gott zu sein, als eben diese anderen. Da waren Männer- und Frauenrunden, zwei Wallfahrtsvereine — welche Wallfahrt versprach mehr Erfolg? —, diverse Bünde und Jugendgruppierungen, da waren Gesellen- und Meistergrüppchen mit naturgemäß widerstrebenden Interessen, da waren die Kaufleute, und unter ihnen die Gastwirte, und ihnen gegenüber standen die katholischen Abstinenzler, die einen schweren Stand hatten, weil das Wort Wein aus dem Neuen Testament nun einmal nicht zu streichen war.

Unausgeschlafen feierte Michael Daun die erste Frühmesse, die von Husten und Schnauben begleitet wurde und von dem etwas eigenartigen Orgelspiel einer Klosterfrau, die über niederen Blutdruck verfügte und erst später zu erwachen begann. Er hatte große Pläne. Wenn er sich aber zu seinem betenden Volk wandte, zu dem Dutzend alter Frauen und zu den drei, vier alten Männern, dann sah er die steinige, die erschütternde Wirklichkeit.

Er hatte keinen Kaplan, mit dem er über seine Sorgen hätte sprechen können. Er hatte niemanden, mit dem er über seine Sorgen sprechen konnte, auch nicht seinen Bischof, denn der Bischof galt weit über seine Diözese hinaus als ein führender Mann innerhalb der katholischen Kirche und war oft auf Vortragsreisen unterwegs. Einige jüngere Kanonici waren sich noch nicht ganz klar geworden, ob der Bischof diese Vortragsreisen unternahm, um Ehrendoktorate einzusammeln oder Ehrendoktorate einsammelte, um Vorträge halten zu können.

Was macht ein Mann, der allein ist und Sorgen hat? Er spricht mit Gott und führt ein Tagebuch.

Daun kannte zwar geistliche Brüder, die nichts von Tagebüchern und alles von Karteien hielten. Er sträubte sich dagegen, pro Seele ein Karteiblatt anzulegen. Und wir ersparen uns jede weitere Schilderung seiner Person, seiner Ansichten und Anlagen, wenn wir einen Blick in sein Tagebuch werfen, denn da schrieb er am Abend des ersten Tages nach seiner Einsetzung folgendes:

Ich habe es den ganzen Tag über versucht, aber es gelingt mir noch immer nicht, die Kirche schön oder auch nur als nicht störend zu empfinden. Sie ist vielmehr ein architektonisches Ungeheuer, viel zu groß für den kleinen, dörflich angelegten Platz, der jetzt von der Stadt eingeholt wurde. Sie stellt eine verheerende Mischung zwischen Backsteingotik und Hagia Sophia dar, ist eine Monstrosität innen wie außen. Ein typisches Produkt der Jahrhundertwende, deren Menschen ich ihren guten Glauben nicht glauben kann, wenn sie es fertiggebracht haben, solch einen Bau aufzurichten.

Es ist mir nicht ganz klar, welche Weisheit damals gewaltet hat, wie mir nach wie vor unklar ist, welcher Geist im Ordinariat wehte, als man mir sehr deutlich nahelegte, daß es der Wunsch nicht zuletzt auch des Bischofs sei, daß ich diese Pfarre übernehme, während man meinen Freund R., der alles Moderne mit dem gleichen Eifer ablehnt wie die Werke des Teufels, in ein Betonachteck mit malerischen Lichtreflexen und einem Betonzuckerhut als Campanile einwies. Sollte wirklich ein Geist dahinter wehen? Oder sollte es nur ein Versehen gewesen sein, eine Verwechslung durch Nachlässigkeit?

Oder war es am Ende eine liebe christliche Bosheit?

Ich mußte immer wieder meine Zuckergußheiligen in der Kirche betrachten. Ich konnte mir nicht helfen, mein Grauen wurde sowohl ihrer Zahl als auch ihrer Ausführung wegen immer größer. Wie haben wir unsere Gläubigen erzogen, daß sie nicht beide Hände vor die Augen schlagen, wenn sie solcher Figuren ansichtig werden? Wieso brauchen wir keine Sanität, wenn der forcierte Kitsch der elektrischen Beleuchtung um den Hochaltar herum eingeschaltet wird? Warum konnte sich in den dunklen Seitenschiffen dieser Wust von religiösen Bildern ansammeln?

Ich erfuhr es. Sie alle waren der Kirche — sicherlich in der reinsten Absicht — vermacht worden.

Wie sie hereinkamen, weiß ich nun. Aber wie bringe ich sie wieder hinaus?

Wie viele werde ich gegen mich haben, wenn ich es versuche. und. wie viele werden diese fremden, schlechten .-Bilder für wichtiger halten als ein persönliches gutes Werk. Mehlem Freund B. haben wohlmeinende Bauernein gotisches Juwel angezündet, als er den Industriegips aus der Kirche verbannte und die gotischen Figuren vom Speicher wieder in die Kirche holte. Die Bauern hatten eine gute Verantwortung. Sie sagten, die Gipsheiligen wären wenigstens ganz gewesen, die alten Heiligen hingegen waren unbrauchbar, da dem einen eine Hand, dem anderen eine Nase, eine Locke oder ein Ohr fehlte.

Mein Vorgänger hier soll ein Schöngeist gewesen sein. Wie hat er das ausgehalten? Oder betrachtete er nur deshalb stundenlang die Kunstbände, um seine Kirche zu vergessen?

Das Gewölbe hinter dem Hochaltar ist knallblau, und die Gestirne darin sind knallgelb. Wie viele Delegationen kunstbeflissener Katholiken werden ins Erzbischöfliche Ordinariat wallen, wenn ich den abwegigen Gedanken fassen sollte, dieses Gewölbe weiß zu tünchen?

Die erste Bank ist etwa fünfzehn Meter vom Altar entfernt, welche Revolution wird ausbrechen, wenn ich sie näher an den Altar heranrücke?

Das Kommuniongitter gleicht einem Drahtverhau einer Barrikade, als gäbe es einen Stellungskrieg zwischen Gott und dem Menschen. Wie viele werden sich bedroht fühlen, wenn ich diese Barrikade abtrage?

Gott nicht.

Die Sakristei ist eine dunkle Höhle. Jeder geöffnete Schrank riecht nach Keller, mehr noch, nach Moder. Die Fenster sind hoch und blind und starren vor Schmutz. Niemand schien auf den Gedanken gekommen zu sein, sie zu putzen. Wie soll auch nur einem Ministranten hier ein Lachen auf die Lippen kommen?

Der Mesner ist ein pensionierter Polizist. Seinem Gehaben nach scheint er nie ein Freund und Helfer gewesen zu sein. Er benimmt sich seinen gläubigen Brüdern und Schwestern gegenüber, als wäre er nicht ein Diener Gottes, sondern der Büttel eines Despoten.

Das Gute an der Sakristei ist, daß sie auch eine Tür hat. Und durch diese Tür kann man sie verlassen. Als ich aus ihr hinaus auf den Pfarrplatz trat, flatterten Tauben hoch. Das tröstete mich. Ich konnte mir sagen, es gab immerhin etwas im Umkreis meiner Kirche, das lebendig war. Und als ich zum Pfarrhof hinübersah, war auch dieses Bild tröstlich. Das Gebäude ist zwar halb verfallen, aber immerhin war es einmal ein kleines Jagdschloß weit außerhalb der Stadt gewesen, als es im Umkreis noch Flußarme und Auwälder gab. Seine Proportionen sind ausgewogen, und der Torbogen so hübsch daneben gesetzt, daß es gar nichts ausmacht, daß das Tor selbst fehlt.

Jetzt ist die Umgebung des ehemaligen Schlößchens Vorstadt geworden, noch nicht ganz Stadt und nicht mehr ganz Land, mit Gärtnereien, einigen kleinen Erzeugungswerkstätten, deren Besitzer sich stolz Fabrikanten nennen, mit ein paar Läden, die sich großstädtisch geben, mit vielen Siedlungshäusern und einigen neuen großen Wohnbauten, die wohl jünger als meine Kirche sind, die ihr aber in puncto Häßlichkeit in nichts nachstehen.

Was mich nach dem Anblick des Schlößchens wiederum weniger beglückte, war die Wildnis hinter dem Schlößchen. Dieser Dschungel aus Brennesseln, Franzosenkraut, Schafgarbe, Goldrute, Weiden- und Pappelgestrüpp, soll einmal ein Garten gewesen sein. Der Schloßgarten zunächst und dann der Pfarrgarten. Ich habe es zwar versucht, konnte aber , nicht zur hinteren Grenze des Gartens gelangen, weil ich kein Buschmesser zur Hand hatte. Hier werde ich roden müssen, und”zwar bald. Diese Wildnis deprimiert“ mich. Wer Gärten vernachlässigt, pflegt auch den Menschen nicht…

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