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Gedanken vor einer Tur

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Oh, es ist nur eine Tür, eine von hun-derttausenden, aber wenn sie sich öffnet, trete ich durch sie in eine Welt, die das meiste umschließt, was mir lieb und teuer gilt: mein Zuhause. Meine Mutter lebt hier, mein Weib und meine Kinder; ein Schrank birgt meinen Schatz an Büchern, in der behaglichen Kaminecke hängt das mir kostbare alte Bild — ein breites, bequemes Bett wartet auf mich und eine blendendweiße Badewanne. Ihr müßt verstehen, daß diese Tür für mich von besonderer Bedeutung ist.

Euch, die ihr gleich mir Heimkehrer seid, hoffentlich auch bald Heimgekehrte, euch muß ich nicht sagen, mit welchen Gefühlen ich die Hand hebe, um anzuklopfen. In wieviel unnennbaren Stunden haben wir von diesem Augenblick geträumt; in den Sommertagen, als wir im weißen, glühenden Sand unter einer unbarmherzigen Sonne dahindösten, und in den langen Winternächten, als der Sturm den Regen an die klatschenden Zeltwände peitschte und wir, in unsere Decken gehüllt, auf dem naßkalten Boden froren; endlos lange. Wißt ihr es noch?

Als man uns vor Stunden die Tore in die sagenhaft gewordene Freiheit öffnete und man uns sagte, jeder könne nun dahin gehen, wohin es ihm beliebe, da waren wir so befangen, daß wir nur zaghaft und mißtrauisch die ersten Schritte in diese neugeschenkte Freiheit wagten.

Urfd dann das Wiedersehen mit den altvertrauten Straßen und Gebäuden! Oft war es eine bittere Enttäuschung, dieses Wiedersehen, und vieles, von dem wir wußten, daß wir es nur noch als Ruine wiederfinden würden, stürzte erst im Augenblick des Wiedersehens zusammen; so lange hatte sich die altvertraute Vergangenheit unversehrt unserem geistigen Auge erhalten.

Fast drückt es mich wie eine Schuld, daß mein eigenes Wohnhaus inmitten der Trümmer stehengeblieben ist, und ganz demütig macht mich die Gewißheit, daß ich erwartet werde, während so viele Kameraden ... „Ich werde erwartet“, leise spreche ich diese Worte vor mich hin: „Ich werde erwartet.“

Vor wieviel Türen bin ich schon gestanden, mit Blumen, mit Kränzen, erwartungsvoll, ängstlich, ungeduldig, zögernd; ja, es ist immer ein Wagnis, eine Tür zu öffnen! Und wie oft bin ich schon durch diese gegangen, Tag für Tag, dreißig Jahre lang! Bis auf die letzten sieben Jahre, da ging ich immer nur durch fremde Türen.

Wie war das doch, vor 30 Jahren? Damals war auch Krieg, mein Vater wurde sein Opfer und meine Mutter mußte für uns verdienen gehen. Es war eine böse Zeit. Und doch: Kindheit!

Durch die blinden Gangscheiben hinter dem verschnörkelten Ziergitter hatte ich einmal das Christkind gesehen und wenn mich morgen meine Tochter fragt: „Vati, hast du schon einmal ganz wirklich das Christkind gesehen?“ dann darf ich ihr ruhig in die Augen sehen und sagen: „Ja,kleine Bettine, ich habe es gesehen — mit diesen meinen beiden Augen habe ich es gesehen. Ein überirdischer Glanz ging von ihm aus und als es seine Händchen hob, da fingen die vielen, vielen Kerzen am Weihnachtsbaum plötzlich zu brennen an.“ Wie viele Eltern können das heute noch mit ehrlichem Gewissen behaupten?

Im Fries jagen die Jahre vorüber, die Vergangenheit wird lebendig vor dieser Tür und ich sehe midi selbst lebenshungrig hinausstürmen, um übersatt und müd jedesmal heimzukehren, immer wieder. Wie lange ist das her, seit ich den Robinson las und den unsterblichen Taugenichts? Ich träumte von weißen Segelschiffen, von schönen Frauen und gefährlichen Abenteuern — aber das ist euch sicher allen auch so gegangen. Und dann jagte man uns in das große, blutige Abenteuer dieses Krieges! Die Sonne Afrikas hat uns gebräunt und der Polarwind hat uns um die Nase gepfiffen, auf den Gletschern des Kaukasus sind wir in unsere Schlafsäcke gekrochen und in der Brandung des Atlantik haben wir Wache gestanden — und inzwischen ist unsere Heimat in Trümmer gegangen. Ist es nicht so?

Da stehe ich nun als Vagabund aller Landstraßen Europas wie ein Fremder vor der eigenen Tür. War es die Erinnerung, die sie mir heller, bedeutender erscheinen ließ, hat die Zeit ihr Antlitz altern lassen oder sehen meine Augen trübe von den vielen unge-weinten Tränen? Ihre Klinke legt sich wie eine schmale, kühle Greisenhand in meine Finger. Ist es mein eigenes, ungeduldig pochendes Herz oder der Pulsschlag der alten Tür, was darinnen klopft?

Einmal, da habe ich mich ihrer Unahn-sehnlichkeit geschämt. Das war häßlich von mir und ungerecht. Damals führte ich ein Mädchen über ihre Schwelle und ich meinte, dessen Liebe zu mir könnte durch die aus allen Winkeln blickende Armut gemindert werden. Meine Braut sah aber nur die Redlichkeit meines Herzens und sie hat später als meine Frau alles Schwere mit mir getragen und mich in keiner Stunde mehr verlassen.

Bis ich sie verlassen mußte, auf lange Jahre. Ganz warm wird mir bei dem Gedanken, daß mich nur mehr eine dünne Wand von dieser Frau und den Kindern trennt. Alle angestaute, laute Freude verstummt im Augenblick der Erfüllung. Ganz, ganz still werde ich eintreten und eingedenk sein, daß diese furchtbare Zeit nicht nur uns, die wir draußen waren, verändert hat, sondern auch die Daheimgebliebenen, die ewig Wartenden, verwandelt haben mußte. Nicht nur draußen, auf den Straßen, sondern auch drinnen im Menschen wurde vieles zerstört und verschüttet.

Freunde, es ist gut, daß wir uns in den langen Nächten so gründlich darüber ausgesprochen haben. Wir werden nicht mehr die gleichen antreffen, die wir einst verlassen mußten, wir werden nicht dort fortsetzen können, wo wir unterbrochen wurden, wir werden keine Zeit zum Ausruhen haben. Es gilt Trümmer aufzuräumen, auch wo anscheinend keine liegen, und auf die Suche zu gehen nach dem verschütteten Menschen in uns.

Und dann, vergeßt nicht, was wir uns draußen gelobt haben, vergeßt nicht den letzten Händedruck, mit dem wir schieden! Das Schicksal fragte nicht nach dem Trennenden zwischen uns, als es uns in die Tiefe des Unglücks stürzte, und wir fragten auch nicht danach, als wir uns in der Gemeinschaft des Leides zusammenfanden: behaltet euren guten Willen und laßt uns Brüder in der Überwindung unserer namenlosen Not bleiben.

Oh, ich weiß, leicht sitzt ein Fluch auf den Lippen und oft will ein aufkommender Zorn unsere Fäuste ballen — und doch: wißt ihr die Urschuld unseres Elends? Mit der Maßlosigkeit im Denken hatte es begonnen und mit der Maßlosigkeit im Zerstören hat es geendet — wollen wir fortsetzen und maßlos sein im Haß und in der Unversöhn-lichkeit?

Ich glaube nicht, daß du mir noch um vieles voraus bist, gute Tür. Vieles hast du gesehen, aber sah ich nicht mehr noch? Und auch hinter die Dinge habe ich zu bücken gelernt! Hinter Menschen und hinter Worte und sehr oft waren beides nur Masken.

Ich habe gesehen, daß man Würdenträgern die Kleidung nahm und erbärmliche Schwächlinge übrigblieben, ich sah, als es ans Hungern ging, daß Ansehen und Ehre für einen Löffel Suppe hingegeben wurden, ich erlebte den Zusammenbruch der trügerischen Ideologien unseres Jahrhunderts und das Et* wachen des Menschentieres, als wir unsere Körper in den nassen Lehm warfen, über uns der rauschende Tod; ich . erlebte aber auch, wie unscheinbare Kameraden, die kaum beachtet neben uns gelebt hatten, im Leid über sich selbst hinauswuchsen und wahre Heilige wurden.

Ja, jetzt weiß ich, worum ich dich immer beneidete, vertraute, alte Tür: um deine Sicherheit, mit der du dich in deinen Angeln drehst, mit der du dich auftust und verschließt, denn auch in der Bewegung ruhst du in einem Punkte fest. Hier ist der Sitz deiner Kraft, das Geheimnis deiner gleichbleibend segensreichen Wirkung. Wie viele Menschen entbehren eines solchen Angelpunktes, sie fallen bei jeder Gelegenheit aus dem Rahmen und das ungehindert einströmende Unwetter schafft in ihrer Seele ein heilloses Chaos. In den schwersten Stunden schrie meine Seele zu Gott und in Todesangst, Hunger und Kälte fand ich Kraft, Ruhe und Geduld nur in der seelischen Disziplin des Glaubens.

So stehen wir uns diesmal geschwisterlich gegenüber und was du schon immer warst: bedürfnislos, weise — auch ich bin es beinahe geworden. Ich habe die Not erlitten und überwunden. Sie wurde mir zur Lehrmeisterin der Bedürfnislosigkeit. Wer von der Armut zutiefst gebeugt und dennoch nicht gebrochen wurde, der wird endlich ihrer Gnade zuteil; er wird auch ein Lächeln unter Tränen finden. Nur wen Hunger und Durst ausgehöhlt und ausgedorrt haben, wird Brot und Becher segnen, nur wem Frost und Nässe durch Mark und Knochen schnitten, wird mit Behagen am prasselnden Herdfeuer sitzen. Wir müssen mit Blindheit geschlagen werden, um die Buntheit der Faf-ben zu sehen und aus Taubheit erwachen, um Glocken zu hören. Auf einmal fällt uns eine Binde von den Augen und Schönheit begegnet uns, wohin wir treten, denn eine nie gekannte, alles umschließende Liebe erfüllt und wärmt uns. Wahrlich, das Leben ist mehr als Arbeit und Pflichterfüllung, wie schrecklich nüchtern wäre das Dasein ohne diese herrliche Verzauberung unserer Seele!

Im offenen Gangfenster gaukelt ein licht-trunkener Falter in der Frühlingssonne. Ich verfolge seinen Flug über die Ruinen hinweg.

Freunde, laßt uns bauen: Häuser der Gemeinschaft, Brücken der Verständigung. Entzündet in euch den Glauben an die göttliche Konzeption des Kosmos, dann wird der Fortschritt nie wieder eine Bedrohung des Menschengesdilechtes, sondern eine Erlösung aus geistigen und leiblichen Ketten sein. Hört den Appell der Heimkehrer! Überall gibt es Wunden zu heilen, Schmerzen zu stillen, Unrecht zu schlichten, und Unfreie zu erlösen. Hosianna, wir leben! Darum laßt uns das Leben als Verpflichtung tragen, damit es denen, die nach uns kommen, wieder eine Verheißung werde!

Schon höre ich Schritte. Sie kommen näher. Wie herrlich ist diese Gewißheit: sie kommen mir entgegen, ich brauche den Weg in die Zukunft nicht aHein zu gehen. Gleich wird sich die Tür auftun und ihre geöffneten Flügel werden mich aufnehmen wie die Arme einer Mutter — den endlich Heimgekehrten.

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