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GEDANKEN ZUM ALLERSEELENTAG

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Es liegt eine sehr einsame, keiner anderen vergleichbare Stimmung über dem heutigen Tag ausgegossen. Fremdartig und geheimnisvoll unterbricht seine Stille die rastlose Geschäftigkeit unserer überlauten Zeil. Heute entspannen sich die gehetzten Gesichter der Menschen und stimmen sich auf die sanfte Trauer der Natur, die den herbstlichen Himmel verschleiert und die letzte Pracht der Gärten an die vielen tausend Kränze verschenkt, welche die Friedhöfe schmücken.

„Es blüht und flimmert heut auf jedem Grabe; Ein Tag im Jahre steht den Toten frei.”

Ein Tag nur, ein einziger Tag! Und doch ist es nicht einmal an diesem einzigen Tag allen geschenkt, zu den Ruhestätten ihrer teuren Entschlafenen zu pilgern. Wie viele unter uns mußten mit der Heimat zugleich auch die Gräber ihrer Lieben einem ungewissen Schicksal überlassen. Da stehen vor unserem geistigen Auge die zu Staub verwehten Opfer des Bombenkrieges und die unerreichbaren Friedhöfe der im fremden Land Gefallenen, die Toten der Gaskammern und die auf der Flucht am Wegesrand Verscharrten. Da sind die unbekannten Ruhestätten der Vermieten, und die fern in der Gefangenschaft — wer sagt uns wo? — Verstorbenen. Und hinter allen diesen, deren Namen wir zwar kennen, aber deren Gräber wir nicht schmücken können, steht die ungeheure Schar der Vergessenen überhaupt — sterben doch allein in New York in jeder Woche fünfzig Menschen, die niemand kennt.

Aber ruft nicht gerade dieses Wissen um so viele vereinsamte und vergessene Gräber zu einem tieferen Gedächtnis unserer Toten auf? Denn es ist im Grunde ja gar nicht das Grab, das dieser Tag meint — nicht Allergräbertag, Allerseelentag lautet sein Namel Die Seele wohnt nicht im Grabe. Schon die Tatsache unserer Erinnerungsfähigkeit weist uns über dieses hinaus. Oder haben wir vielleicht noch niemals darüber nachgedacht, welch unsagbar kostbares Geschenk diese unsere Fähigkeit des Erinnerns bedeutet? Daß wir da in unserem Innern immer noch die teuren Angesichter unserer Toten erblicken können, unzerstört und unzerstörbar wie einst, da uns die Lebendigen zulächelfen? Ja, daß wir uns sogar ihre Worte und Stimmen zuückrufon'-körfneW;r!ets wäfetV'dtese längst verklungenen in unserem Innern auf' Wunderbare' Weise“dufbeWbtirt.

Auch die Kirche ist eine große Erinnernde mit ihren erschütternden Gebeten für die Verstorbenen und ihren Verheißungen der Ewigkeit. Heute weiht sie sich gänzlich ihren toten Kindern, und hier sind nun alle, auch die Vergessensten, mit eingeschlossen — sie, die keiner kennt, Gott kennt sie dennoch! Und hier endlich wird auch der Blick über das Grab hinaus frei, denn hier heißt es: „was suchet ihr die Lebendigen bei den Toten?" Aber schon stoßen wir auf eine tiefe Hilflosigkeit des heutigen Menschen, durch die er sich von allen früheren Generationen unterscheidet, selbst das Heidentum wagte es, über den Tod hinaus zu hoffen, off in kindlicher, zuweilen aber auch in grandioser Weise. Die griechische Mythologie schuf in der lieblichen Persephonesage ein Bild der Unsterblichkeit, die Aegypter ein solches in ihren gigantischen Tofenmalen. Sogar der primitive Mensch der vorgeschichtlichen Jahrtausende war dem Zeitalter der Technik in metaphysischer Hinsicht überlegen: er weigerte sich, eine endgültige Vernichtung anzunehmen, und zeigte dies durch die Gaben, die er seinen Toten ins Grab legte. Das Christentum endlich hat nicht sowohl im Zeichen des Kreuzes gesiegt als im Zeichen der Auferstehung — die Osterbotschaft war es, mit der es die Welt bezwang. Heute, seien wir ehrlich, ist gerade der Osterglaube weithin im Schwinden. Es ist schwer, ihn dem heutigen Menschen wiederzugeben, denn geheimnisvoll wie der Tod ist auch das Innewerden seiner jenseitigen Bedeutung. Unsere Zeit hat aber auch kein Verhältnis zum Geheimnis: Entschleierung und Entlarvung lautet ihre Forderung an die zeitgenössische Dichtung, in der Meinung, dadurch Wesentliches zu erfahren. Aber genau das Entgegengesetzte ist oft der Fall, denn das Geheimnis selbst hat zuweilen Offenbarungscharakfer. Die Ewigkeit schweigt und erschließt sich nur dem Schweigenden. Verehren, Warten und Lauschen sind die Voraussetzungen jeder religiösen Erkenntnis. Es wird also sehr weithin davon abhängen, ob wir den Willen aufbringen, ein wenig mehr Stille, Sammlung und Innerlichkeit in unser allzu geräuschvoll gewordenes Leben einzulassen. Vielleicht, daß wir dann innewerden, wie uns aus dem Unsichtbaren eine zarte, jenseitige Kraft zu Hilfe kommt — ist es, daß die Toten, für die wir beten, auch für uns bitten dürfen? „Die Liebe höret niemals auf”, sagt die Bibel, und an anderer Stelle: „Sie ist stark wie der Tod’ — an Stärke diesem gewachsen. Allerdings, sie stellt keinen schlüssigen Beweis dar, wie der heutige Mensch ihn gerne verlangt, aber es geht auch gar nicht um einen solchen — es geht darum, zu verstehen, daß jede menschliche Liebe ein Symbol ist, daß in ihr ein Gleichnis und Unterpfand der ewigen Liebe erscheint, die für uns den Tod überwunden hat. So ist denn auch ohne Zweifel jede wandellose Herzensfreue dem Geheimnis der Ewigkeit näher als der kühle Verstand, wenn auch off nur unbewußt. Aber es wohnen ja in den Tiefen unseres Seins noch viele sehr mächtige Kräfte, die sich nur scheuen, in den laufen Tag emporzusteigen. Jedoch die Bedeutung dieses Tages ist noch nicht erschöpft: Allerseelen weist uns auch auf den Gedanken an unser eigenes Sterben hin. Wenn es für die Toten heißt: „Sie ruhen von ihrer Arbeit”, so heißt es für die Lebenden: „Wirket, solange es Tag ist.” Wir können nicht nur für unsere Heimgegangenen beten, wir können auch für sie leben, das Beste ihres Erdendaseins fortsetzen, was ihnen heilig galt schützen und durch die Zeit fragen. Gerade die unsere, die mit soviel Vergangenem aufräumfe, bedarf der Mahnung: „Gedenket der Toten, denn ihrer sind viele!” Auch das, was uns heute an neuen Werten und Reichtümern geschenkt ward, hat eine lange Geschichte. Vor allem aber gilt es um der Entschlafenen willen auch den Lebenden Liebe zu erzeigen — sie ist die schönste Gabe, die wir unseren Toten darbringen können.

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