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Den Nazis entkommen, unter Stalin inhaftiert:Erinnerungen von Lenka Reinerová.

Lenka Reinerová ist die letzte deutsch schreibende Schriftstellerin in Prag. In allen Erzählungen dieser altösterreichischen Jüdin schwingt Autobiografisches mit. In ihrem neuen Buch hat sie sich ganz auf eine Periode ihres eigenen Lebens eingelassen: 1952 wurde sie ohne Angabe von Gründen verhaftet. Von ihrem Mann und der kleinen Tochter konnte sie sich nicht verabschieden. Eineinhalb Jahre sollte sie die beiden nicht wiedersehen und ihnen keinen Brief schreiben können. Denn die Haft war eine Untersuchungshaft und der Weg zum Gericht hätte in diesem stalinistischen System nur über ein "Geständnis" geführt.

Lenka Reinerová war wegen ihrer internationalen Kontakte verdächtig: Während des Zweiten Weltkrieges war sie zunächst in Frankreich interniert und hat später in Mexiko Zuflucht gefunden, verheiratet war sie mit einem jugoslawischen Arzt, Freunde und Bekannte hatte sie nahezu in der ganzen Welt. Und besonders verdächtig war sie als Jüdin. Das konnte sie am wenigsten begreifen: dass sie als Jüdin dem Holocaust, dem viele in ihrer Familie zum Opfer gefallen waren, entkommen war, und nun von den eigenen Leuten als Jüdin verdächtigt wurde.

Überzeugte Kommunistin

Lenka Reinerová war seit ihrer Jugend überzeugte Kommunistin. Sie hatte bereits reiche Gefängniserfahrung, aber jetzt waren es die eigenen Leute, die sie einsperrten, terrorisierten und verhörten. Wie war das möglich? Diese Frage durchzieht das ganze Buch. Am Ende wird Lenka Reinerová an den Stadtrand von Prag gebracht und dort sich selbst überlassen. Einzige Erklärung: Stalin ist gestorben und Gottwald, der erste kommunistische Staatschef der Tschechoslowakei, auch.

Die eineinhalb Jahre zwischen ihrer Verhaftung und diesem Ende schildert die Autorin, indem sie ganz auf die Kraft der Erinnerung vertraut: ohne theoretische Reflexionen, ohne literarische Kunstgriffe. Die Details des Gefängnisalltages werden präsent: der Terror ständiger Beobachtung, die quälende Kälte und Feuchtigkeit, die Unmöglichkeit, irgend etwas zu tun; am Tag ist es finster, in der Nacht brennt die Glühbirne. Und bei jedem Verhör die Versicherungen: "Wir können Sie hier verschimmeln lassen!" Als sie einmal in den Hof an die frische Luft gebracht wird, ist sie wie betrunken. In der Zelle weiß sie nicht einmal, welcher Tag oder welches Wetter ist. Die Post ihrer Familie bekommt sie nicht, sie soll glauben, alle haben sich von ihr distanziert.

Nicht wahnsinnig werden

Lenka Reinerová versucht, nicht wahnsinnig zu werden, sich zu konzentrieren: auf die Farben der Sonne, auf die positiven Erlebnisse und Erinnerungen früherer Jahre. Und so passiert in diesem Buch ihre ganze Jugend Revue, das Prag der dreißiger Jahre, die Kulturszene der deutschen Emigranten, der linke Idealismus jener Jahre. Lenka Reinerová will den eigenen Idealen treu bleiben und so feiert sie auch im Gefängnis den ersten Mai. Das ist eine der berührendsten Szenen, denn um diese Zeit teilt sie die Zelle mit einer strikten Antikommunistin, die aber in den vielen Gesprächen und vor allem in der Solidarität des Gefängnisalltages verstehen gelernt hat, warum Lenka Reinerová den ersten Mai feiern muss; und so hilft sie ihr, aus diesem Tag ein karges Fest zu machen. Hier wird deutlich, dass Kommunismus einmal etwas anderes bedeutete und wollte als Stalinismus und sowjetische Parteidiktatur.

Erst Jahrzehnte später hat Lenka Reinerová ganz mit dem Kommunismus gebrochen. Der Prager Frühling verkörperte noch einmal ihre Hoffnungen auf einen menschlichen Sozialismus. In dieser Zeit veröffentlichte sie bereits ein Buch auf Tschechisch über ihre Gefängniszeit. Aber das ist für sie heute nicht mehr gültig. 50 Jahre nach diesen Erlebnissen hat sie erneut zur Feder gegriffen: desillusioniert, aber nicht verbittert. Das ist das Erstaunliche an diesem Dokument der Zeitzeugenschaft: Lenka Reinerová stilisiert sich weder zur Heldin noch zum Opfer und versucht nicht zu erklären oder eine Botschaft zu übermitteln.

Das letzte Wort in ihren Erinnerungen hat eine stille Zuversicht, die aus dem Glück kommt: "Eine Stunde Glück vermag ein langes Stück dorniger Lebenswege zu erhellen. Das sind die Farben der Sonne."

Alle Farben der Sonne und der Nacht

Von Lenka Reinerová

Aufbau Verlag, Berlin 2003

190 Seiten, geb., e 15,50

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