Vor 50 Jahren starb der Schriftsteller Leo Perutz. Daniela Strigl las die jüngste Biografie über den Altösterreicher.
Die Bücher des Leo Perutz "Unterhaltungsromane" nennen, hieße sie in ein unverdientes Zwielicht rücken. Sehr unterhaltend sind sie freilich, mehr als das, so spannend, dass man sie zwischendurch ungern aus der Hand legt, so überzeugend in ihrer historischen Verkleidung, dass man sich tatsächlich in das Prag Rudolf II. oder das Paris des 17. Jahrhunderts versetzt fühlt. Und immer sind sie, an der Schnittstelle zwischen Realismus und Phantastik, auch ein bisschen unheimlich. Sie lassen sich nicht einfach konsumieren, sie offerieren stets mehrere Deutungsmuster, verlangen, dass der Leser mit- und weiterdenkt.
Heuer, da der 50. Todestag und praktischerweise auch der 125. Geburtstag des großen österreichischen Erzählmagiers zu begehen sind, legt der Hamburger Perutz-Forscher Hans-Harald Müller seine lang erwartete Biografie vor. Ginge es nach deren Gegenstand, so wäre es dazu wohl nicht gekommen. "Ich habe wenig Verständnis für die Erhabenheit durch 5 teilbarer Ziffern des dekadischen Zahlensystems", schrieb der Mathematiker Perutz anlässlich seines 75. Geburtstages an den Autor Josef Kalmer. Sein Lebenslauf sei uninteressant: "Bitte, schreiben Sie nichts über mich und alles über meine Romane."
Hans-Harald Müller zieht sich aus der Affäre, indem er den Romanen im Rahmen der Lebensgeschichte relativ breiten Raum und einige Autonomie zugesteht. Dabei zitiert er zeitgenössische Rezensionen von Broch bis Tucholsky in extenso und schöpft aus zahlreichen Quellen, etwa den Gesprächen mit (um 1980 noch lebenden) Freunden oder den in winziger Privatkurzschrift beschriebenen Taschenkalendern des Dichters. So entsteht ein markantes Porträt vor dem Hintergrund der Zeit, wobei, wie sich das für die Biografie eines Autors gehört, die schriftstellerische Arbeit, auch deren geschäftliche Seite, im Vordergrund steht. Müller verabsäumt es freilich, dem Leser darzulegen, in welcher Hinsicht seine Arbeit über den Erkenntnisstand von Ulrike Siebauers sehr solider Biografie aus dem Jahr 2000 hinausreicht.
Von Prag nach Wien
Perutz' Vorfahren kamen aus dem Weiler Peruc nahe dem böhmischen Rakonitz, sein Vater etablierte sich in Prag, wo 1882 der kleine Leopold zur Welt kam: Dass Kindheit und Jugend kaum dokumentiert sind, ist Pech für den Biografen, den Geburtstag - den 2. November 1882 - hätte er aber schon verraten dürfen. 1901 zog die Familie nach Wien, der Vater reüssierte im Baumwollhandel, der Sohn versagte bei der Matura. Nach der Militärzeit als Einjährig-Freiwilliger absolvierte er eine Ausbildung zum Versicherungsmathematiker, arbeitete zunächst bei der Generali in Triest, dann bei der Anker in Wien, wo er sich mit Fachpublikationen einen Namen machte - die "Perutz'sche Ausgleichsformel" wurde ein Meilenstein der modernen Prämienkalkulation. Belletristisches schrieb Leo Perutz nur unter anderem: von Jugend an verbrachte er viel Zeit im Caféhaus, spielte Schach, Tarock, Bridge und Poker, vor allem im "Museum" und im "Central", verkehrte mit dem berühmten Anwalt Hugo Sperber, mit Alfred Polgar, Anton Kuh, Richard Beer-Hofmann und Egon Erwin Kisch und war mit den Schriftstellern Ernst Weiß und Richard A. Bermann (alias Arnold Höllriegel) befreundet. Perutz ging Skifahren und Bergsteigen, er sammelte Briefmarken, Antiquitäten, alte Bücher und - Frauen. Nicht selten hatte er mehrere Liebschaften parallel.
Auch sein Auftritt in der Literatur war sogleich von Erfolg gekrönt: sein erster Roman Die dritte Kugel wurde sofort von Albert Langen angenommen, im Juni 1915 - und im Oktober war das Buch da. Da trug Perutz schon wieder, ohne Begeisterung, den Rock des Kaisers, im Sommer 1916 wurde er an der galizischen Front schwer verwundet. Die Republik begrüßte Perutz ohne Wehmut, vermutlich gemeinsam mit dem Anwalt Walther Rode publizierte er eine Brandschrift gegen die mörderische Praxis der auch von Karl Kraus angeprangerten k.u.k. Feldgerichte und rief zur Wahl der Sozialdemokratie auf. Im Laufe der Jahre rückte der Kapitalistensohn nach rechts, in der Schuschnigg-Ära gehörte er dem "Bund Legitimistischer Jüdischer Frontsoldaten" an und betrachtete den übernationalen Charakter der Monarchie als zukunftsweisend - so lehnte er später den Nationalstaat Israel vehement ab.
Traum vom Kaiserreich
Der Traum von einem Kaiserreich liegt denn auch dem soeben neu aufgelegten Roman St. Petri-Schnee (1933) zugrunde. Hier geht er allerdings schlecht aus: Ein Mann erwacht im Spital aus tiefer Bewußtlosigkeit und erinnert sich an seine Zeit als Dorfarzt auf den westfälischen Gütern des Baron von Malchin, der mit Hilfe einer berückenden griechischen Chemikerin die synthetische Herstellung einer Droge betrieb, die die Menschen zum Glauben an Gott zurückführen und so die nur vermeintlich ausgestorbenen Staufer in ihre alten Rechte einsetzen sollte.
Das Experiment endet mit einem bolschewikischen Aufstand: Die Reichsidee (man denke an Alexander Lernet-Holenias Die Standarte) war um 1930 genauso präsent wie die Angst vor den Roten und jeglicher Massensuggestion. Die Erinnerung des Arztes stellt sich als Fieber-Wunschtraum heraus - oder doch nicht? Der Autor hält beide Möglichkeiten souverän in der Balance.
"Dem Dichter Perutz guckt immer der Mathematiker über die Schulter, er hat ein möglichst kompliziertes Beispiel gefunden, das mit möglichster Eleganz gelöst werden muß", hatte Richard A. Bermann 1923 geschrieben. Und: "Wäre er Engländer, dann wäre er schon Baronet ... In deutschen Landen ist er immer noch nicht viel, nur der beste Erzähler." Alfred Polgar und Carl von Ossietzky waren sich einig, in Leo Perutz keinen "Literaten" zu sehen, sondern einen "Dichter", der Romantik und Sachlichkeit unter einen Zauberhut zu bringen versteht. Perutz' Berühmtheit nahm mit dem literarischen Krimi Der Meister des Jüngsten Tages und der Heimkehrergeschichte Wohin rollst du, Äpfelchen im Laufe der zwanziger Jahren rapid zu. Er hatte bei der Versicherung gekündigt, verdiente einiges mit Filmrechten und erwartete von seinen Büchern, sie würden "tragen", als wären sie Obstbäume. Ein Porträtfoto jedoch wollte er den Zeitungen nicht zur Verfügung stellen - als ein "prinzipieller Gegner dieser Art von, Publicity'".
1928 stirbt seine geliebte Frau Ida, genannt "der Bär", bei der Geburt des dritten Kindes, 1935 heiratet er eine wesentlich jüngere Frau. Mitunter bleibt der Biograf allzu dezent, schreibt etwa: "Aus der Fülle und Art der Eintragungen im Notizbuch ist zu ersehen, wie sehr Perutz an seiner Mutter gehangen hatte." Anstatt uns etwas von diesen Eintragungen zu verraten. Auch wird Perutz' Verhältnis zu seinem Judentum nicht wirklich ausgeleuchtet. Immerhin vermitteln einige Anekdoten eine Ahnung von seiner eigenwillig schroffen Art.
Moschee und Kahlenberg
Mit dem Anschluss 1938 gewinnt Müllers kluge, aber etwas blutleere Darstellung Farbe und Tempo. Der Dichter hatte das Glück, einen geordneten Rück- und Auszug nach Palästina bewerkstelligen zu können. Seine Brüder retteten das Firmenkapital vor den Nazis. Perutz lebte in Tel Aviv, liebte Jerusalem und hatte Heimweh nach Österreich. Sein Traum, meinte er nach dem Krieg, sei "ein Haus, von dessen vorderen Fenstern man die Omarmoschee sieht und von den hinteren den Kahlenberg." So wurde er wieder österreichischer Staatsbürger und fuhr wie früher auf Sommerfrische nach St. Wolfgang, obwohl man ihm in Wien zu verstehen gab, dass die jüdischen Themen seiner letzten Bücher den Leuten noch nicht zuzumuten seien: Der grandiose Altprager Novellenroman Nachts unter der steinernen Brücke wurde gut besprochen und schlecht verkauft.
Perutz setzte sich für die Nazi-Autoren Bruno Brehm und Mirko Jelusich ein, mit denen er seit den Zwanzigern befreundet war und die er 1938 als loyal erlebt hatte. (Wiewohl er Brehm im Kalender einmal ein "Schwein" nennt.) Seinem Protegé Josef Weinheber, der Perutz und seinen Kreis in dem hier nicht erwähnten Zeitroman Gold außer Kurs porträtiert hatte, weinte er nach dessen Freitod 1945 mehr als eine Träne nach. Nicht umsonst war Perutz' Wahlspruch "Contra torrentem", nicht umsonst zeigte sein Siegel eine Forelle, die gegen den Strom schwimmt. Im Hause seines Freundes Lernet-Holenia in St. Wolfgang erlitt Leo Perutz am 25. August 1957 einen Herzinfarkt, er starb im Spital in Bad Ischl. Wie es einem Altösterreicher geziemt.
Leo Perutz
Biografie von Hans-Harald Müller
Zsolnay Verlag, Wien 2007
404 Seiten, geb., € 25,60
St. Petri-Schnee
Roman von Leo Perutz
Zsolnay Verlag, Wien 2007
207 Seiten, geb., € 20,50
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