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Gegen Lähmung und Angst

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Im Neuen Testament wird von vielen Wundern Jesu berichtet. Wie glaubwürdig sind diese? Keine Alltagsgeschichten -aber Hoffnungsmuster.

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Im Neuen Testament wird von vielen Wundern Jesu berichtet. Wie glaubwürdig sind diese? Keine Alltagsgeschichten -aber Hoffnungsmuster.

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Da sitzt einer mit blind gewordenen Augen am Rand der Straße. Als er hört, wer vorübergeht, fängt er an, nach Gerechtigkeit zu schreien, und hört nicht auf, so sehr die anderen ihn anfahren. Und Jesus holt ihn und sagt ihm: Das war deine Rettung, daßdu nicht aufgehört hast zu schreien; und er kann wieder aufschauen und geht mit ihm nach Jerusalem (Mk 10).

Ein junger Mann ist von Hause fortgelaufen, obvyohl oder gerade weil sie versucht hatten, ihn festzubinden. Jetzt wohnt er zwischen den Gräbern und macht sich selbst kaputt. „Quäle du mich nicht auch noch!” schreit er Jesus entgegen. Doch dann sitzen die beiden zusammen und reden miteinander, und am Ende geht der Junge nach Hause, um davon zu erzählen (Mk5).

Eine Frau ist im Gottesdienst, die nicht mehr die Kraft hat, gerade zu stehen. Und er redet sie an und umarmt sie, und sie richtet sich wieder auf (Lk 13): Sind das etwa unglaubwürdige Geschichten? Ist nicht jede von ihnen genau so denkbar, jedenfalls in unserer Sehnsucht? Gewiß, es sind keine Alltagsgeschichten, es sind Hoffnungsmuster. Sie erzählen von dem, der die Leute aufgeweckt hat mit seiner unerhörten Hoffnung: Glaubt mir, sagt er, die Hungernden werden satt, die Trauernden werden getröstet, den Sanftmütigen gehört die Erde! (Mt5,Lk6)

Ich kenne gut die ungläubige Langeweile, die sich bei Kindern ausbreitet, wenn wir ihnen wieder einmal eine „Wundergeschichte” erzählen. Doch bei diesen Sätzen, die Jesus am Anfang der Bergpredigt oder Feldrede sagt, habe ich nie erlebt, daß ein Kind gefragt hat: Wie soll den das gehen? Es sind notwendige Sätze, und die Kinder nehmen sie auf wie trockene Schwämme das Wasser.

Viel zu lange haben wir uns leiten lassen von der Behauptung, die biblischen Wunder meinten eine Durchbrechung der Naturgesetze. Naturgesetze lassen sich konstatieren und beweisen, und ihre Durchbrechung, wenn sie denn geschähe, müßte das auch. Und damit wären wir ihnen gegenüber in der für das Bildschirmzeitalter typischen Rolle unbeteiligter, doch spektakelsüchtiger Zuschauer.

In dieser Konsumentenhaltung werde ich von den Wundern der Bibel nicht das geringste begreifen. Wunder erfährt nur, wer liebt und leidet und hofft. Wären Wunder nichts anderes als eine Durchbrechung der Naturgesetze, dann wären die Wunder der Schöpfung keine Wunder mehr: das Farbenspiel des Himmels, die Schönheit der Blumen und der Gesang der Vögel, selbst die Geburt eines Kindes. Die Gesetze der Natur werden darin nicht durchbrochen, sondern sie erfüllen sich, doch in einer Weise, die uns tief erstaunen läßt, wenn wir nur wirklich wahrnehmen, was da geschieht.

Wirklich wahrnehmen, was da geschieht: Das ist der Kern aller Wundererfahrung. Wo immer wir von einem Wunder sprechen, geht es um eine befreiende, tröstliche Erfahrung. Den Anbruch eines neuen Tages nach einer angstvollen Nacht kann ich als ein Wunder erfahren, die Genesung von schwerer Krankheit, ja auch jede Begegnung mit Schönheit und Güte. Damit werden zwar nicht die Gesetze der Natur durchbrochen, wohl aber andere, denen wir uns allzu leicht unterwerfen: die in unseren Seelen wirksamen Gesetze der Angst und der Hoffnungslosigkeit. Wo diese Gesetze durchbrochen werden, da und nur da sprechen wir mit Recht von einem Wunder. Wunder sind nicht das Über- oder Unnatürliche, sondern das eigentlich der guten Schöpfung Gemäße.

So zeigen auch die Wunder Jesu nichts Übermenschliches, sondern seine tiefe Menschlichkeit, in ihnen geschieht nichts Unmögliches, sondern eben das, wonach wir uns zutiefst sehnen, worauf zu hoffen uns nur immer schwerer wird. Mit den Sätzen am Anfang der Bergpredigt und der Feldrede entfacht er diese zerbrochene Hoffnung neu, und in den Wundern, die sich unter seinen Händen und Worten ereignen, gewinnt sie leibhaft Gestalt.

Die Frage nach der Glaubwürdigkeit geht hier aufs Ganze, nicht nur auf einige Geschichten, die dem antiken Menschen (so wird oft gesagt) vielleicht noch zugemutet werden konnten, uns aber nicht mehr. Ist seine Hoffnung glaubwürdig, dann sind es auch die Wunder, die von ihm erzählt werden; und sind die Geschichten nicht mehr glaubwürdig, in denen Blinde sehen und Lahme gehen lernen, dann sind die Sätze seiner Hoffnung nur noch Vertröstung auf ein besseres Jenseits.

In einem späten Drama von Arthur Miller „Bröken Glass” wird die Geschichte einer Jüdin in den USA erzählt, die auf eine den Ärzten zunächst unerklärliche Weise von einer Lähmung befallen wird, die sie in den Rollstuhl zwingt; und erst allmählich wird deutlich, daß es die grauenhaften Nachrichten von der beginnenden Vernichtung der Juden in Hitler: Deutschland waren, die diese Lähmung verursachten. Niemand unter den Kritikern fand diese Geschichte unglaubwürdig. Sollten die Gegengeschichten im Neuen Testament, die erzählen, wie der Rann solcher Lähmung durch eine neue Hoffnung durchbrochen wird, darum weniger glaubwürdig sein?

Alle Wundergeschichten sind eigentlich Gegengeschichten gegen die Lähmung, die aus der Angst wächst. Die große Verführung der Angst liegt darin, daß sie immer den Anspruch erhebt, allein wirklich zu sein. Wenn die Angst mich packt, ist um mich nur noch Angst. Diese Alleinherrschaft lassen die Wundergeschichten nicht zu. Alle Alleinherrscher sind überaus empfindlich, wenn ihr Herrschaftsanspruch auch nur an einer einzigen Stelle durchlöchert wird. Ein kritischer Witz kann in einer Diktatur das Leben kosten. Die Wunder, die von Jesus erzählt werden, setzen Lichter in der finsteren Landschaft der Gewalt und Verzweiflung; schon wenige Lichter genügen, und die Finsternis bleibt nicht mehr undurchdringlich.

Die Wunder Jesu sind eingebettet in den Zusammenhang der großen Wunder der Schöpfung. Sie alle reden die gleiche Sprache. Sie zeugen von der Güte des Schöpfers, der das Leben will und nicht seine Zerstörung. Freilich: In den Zusammenhang der Schöpfung gehören auch die schweren Schatten, die Krankheit und Tod werfen. Doch in unserer Wahrnehmung erscheinen diese Schatten immer wieder so, als wären sie das Ganze und die Finsternis das Letzte. Dem widersprechen die Erzählungen von den Wundern Jesu. Sie alle sind eigentlich Wunder der Auferstehung.

Erzählungen leiten uns an, mit der Hoffnung sachgemäßer umzugehen. In der Sprache der Theologie ist die Hoffnung ein Gebot und die Verzweiflung Todsünde.

(desperatio) eine Aber wie soll ich hoffen, wenn ich den Boden unter den Füßen verliere? Erzählungen reden da anders, sie fordern nicht, sie zeigen, woran ich mich halten kann. Halten kann ich mich an die Güte und Menschlichkeit Jesu und an die große Güte Gottes, die in der ganzen Schöpfung sichtbar wird. Die biblischen Erzählungen reden davon in einer Sprache, die mein Herz erreicht.

Das menschliche Herz ist wie ein Schiff auf einem wilden Meer, schrieb Luther. Das erfahre ich besonders in meinen Träumen. Da segelt mein Herz mitten hindurch zwischen abgründigen Ängsten und verwegenen Hoffnungen, wirklich: wie auf einem wilden Meer. Auch in der Sprache solcher Träume erzählt das Neue Testament von Begegnungen mit Jesus: Ein kleines Schiff mitten auf dem wilden Meer, der Wind steht ihnen entgegen; da sehen sie über dem Wasser eine Gestalt auf sie zukommen und schreien vor Angst. Doch dann hören sie: Fürchtet euch nicht, ich bin es! Er ist bei ihnen, sie sind am Ufer, und der Sturm ist vorüber. (Mk 6, Mt 14). Oder es wird erzählt, wie die Wellen schon über dem Schiff zusammenschlagen; er ist zwar bei ihnen, doch er schläft, als ginge ihn das alles nichts an. Dann aber, auferweckt, herrscht er den Sturm an und das Meer, und es entsteht eine gewaltige Stille (Mt 8, Mk 4).

Solche Geschichten werden nicht für Zuschauer erzählt. „Das Reich Gottes kommt nicht für Zuschauer”, sagt Jesus (Lk 17,20). Nur wer selbst die Angst kennt, in diesem Chaos unterzugehen, kann ermessen, wie glaubwürdig sie sind.

Wozu sind diese Geschichten erzählt? Hätte ich diese Geschichten nicht, ich hätte verlernt, auf das Wun -der zu hoffen, das mich wieder festen Boden unter den Füßen finden läßt. Ich hätte keine Perspektive, wenn die Angst in der Nacht nach mir greift. Ist es eine verläßliche, eine glaubwürdige Perspektive? Für den, von dem diese Wunder erzählt werden, war sie so glaubwürdig, daß er mit seinem Leben dafür einstand.

Eigentlich sind all diese Wunder nichts anderes als eine Entfaltung ganz einfacher Worte der Psalmen: Du bist bei mir (Ps 23,4). Deine Hand hält mich fest (Ps 63,9). Du machst mich wieder lebendig (Ps 71,20). Sind diese Sätze glaubwürdig, so sind es auch die Wunder Jesu, sind sie es nicht, so sind auch all seine Hoffnungssätze in den Wind geschrieben. Wir sind heute so gefragt, wie es Dietrich Bonhoeffer in den letzten Wochen seiner Haft niederschrieb: Was glauben wir wirklich?, d. h. so, daß wir mit unserem Lben daran hängen? (Widerstand und Ergebung S. 415)

Den Drahtseilakt dieses Glaubens muß niemand ohne Netz vollbringen: Gott umfängt uns täglich in seiner Schöpfung mit einem Netz von Wundern. Doch warten wir auf noch andere: daß einmal alle hungernden Kinder dieser Welt zu essen bekommen. „Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen” - das ist das Wunder, dem wir entgegensehen. Unsere Glaubwürdigkeit als Christen hängt an der Glaubwürdigkeit dieser Verheißung.

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