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Geist der Erkenntnis

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„Alles Erhabene ist schwer.“ (Spinoza, Ethik. Schlußwort.)

Benedikt d'Espinozaentstammt einer portugiesischen Familie, die wegen ihrer Religion aus der unduldsamen Heimat emigrieren und in Holland Zuflucht suchen mußte. Er gewinnt seine erste Bildung im Schöße der Glaubensgemeinde. Sein reger Geist strebte aber über diese Begrenzung hinaus, vertiefte sich in mathematische und physikalische Studien, die damals in hoher Blüte standen, und machte sich mit dem Schrifttum neuerer und älterer Philosophen vertraut. Besonderen Einfluß übte auf ihn der Verkehr in dem Hause Franz van der Endes, eines glänzenden Humanisten und naturwissensdiaftlich gebildeten Arztes, von dessen geistvoller Tochter er im klassischen Latein als der Sprache der Gelehrten unterwiesen wurde. Schon damals fesselte ihn die Philosophie des Cartesius, und er widmete ihr sein erstes Werk: „Die Prinzipien der Philosophie des Renatus des Cartes“ mit dem Anhang: „Metaphysische Gedanken“. Auf diesem Wege entfremdete er sich innerlich dem Kreis seiner Angehörigen und Glaubensgenossen, bis es zum offenen Bruch kam. Er verteidigte sich in einem „Theologisch-politischen Traktat“, in dem er, der erste Denker der modernen Demokratie, Denk- und Redefreiheit als unveräußerliches Naturrecht des Menschen fordert und erklärt, „in einem freien Staate müsse einem jeden erlaubt sein, zu denken, was er wolle, und zu sagen, was er denke“. Als „unverbesserlicher Ketzer und Abtrünniger“ wird er mit dem Bannfluch der Synagoge belegt und von der Familie verstoßen. Kaum entgeht er dem tückischen Dolchstoß eines Fanatikers. Aus seiner Heimatstadt vertrieben, lebt er in einem benachbarten Dorf, von aller Welt zurückgezogen, ernährt sich durch das Schleifen optischer Gläser, durch einen Beruf, der ihm bei seinen bescheidenen Lebensansprüchen Zeit genug ließ, seiner Berufung zu leben. Er hat die „philosophische Existenz“ rein verkörpert wie wenige vor und nach ihm. Eine ordentliche Professur in Heidelberg schlug er aus, weil „er nicht wüßte, wie er nach seiner Überzeugung offen philosophieren und vortragen solle, ohne Anstoß zu geben“. Ein ererbtes Leiden, fortschreitende Schwindsucht, führte zu seinem frühen Tod. Er starb 45jährig am 21 Februar 1677 im Haag. Im Juli des gleichen Jahres erschien posthum, von seinem Freunde Ludwig Meyer herausgegeben, aber nur unter Nennung der Anfangsbuchstaben seines Namens, sein Hauptwerk: „Ethica more geometrico demonstrata“, „Die Ethik auf geometrische Art bewiesen“. Neben den schon genannten Schriften runden der Traktat „Zur Verbesserung des Verstandes“, der unvollendete „Politische Traktat“ und eine wertvolle Briefsammlung das Gesamtbild seiner literarischen Hinterlassenschaft.

Bald nach seinem Tode in völlige Vergessenheit geraten, wird er erst nach hundert Jahren von L e s s i n g entdeckt und beginnt von da ab mächtig auf die Geister zu wirken, so auf Herder und besonders auf Goethe, der von seinen Schriften bekundet: „Ich ergab mich dieser Lektüre und glaubte, indem ich mich selbst schaute, die Welt niemals so deutlich erblickt zu haben.“ Das Denken Kants steht unter dem Banne der spino-zistischen Position. Baader tadelt S c h e 1-1 i n g, daß er von „dem dürren Magister Spinoza“ nicht loskommen könne. Hegel erfährt tiefgehend den Einfluß dieses Denkers, von dem er erklärt: „Es gibt keine feinere und erhabenere Moral als die Spinozas.“ Der Einfluß des Philosophen reicht bis in unsere Tage.

Die Problemstellung klar zu erfassen, die aus der geschichtlichen Lage für Spinoza erwachsen mußte, müssen wir daran denken, daß Spinoza sechzehn Jahre alt war, als der größte abendländische Religionskrieg, der Dreißigjährige Krieg, zu Ende ging, mit Verheerungen und Verwüstungen, die nur wir aus der Perspektive unserer Erlebnisse ermessen können. Wir müssen uns auch erinnern, daß dieser „furor religiosus“ durch alle Länder Europas raste. Wir denken an die Hugenottenkriege in Frankreich und bei Spinoza vor allem an den Freiheitskampf der Niederlande, der sich in seiner fast hundertjährigen Dauer zeitlich über die beiden anderen Religionskriege erstreckte. Spinoza, zuerst m i t seiner Familie und dann gegen sie ein religiös und weltanschaulich Verfolgter, stand tief unter dem Eindruck dieses Geschehens, das den Weg der Gottesidee in der Geschichte durch raudiende Trümmer und Strome von Blut zu bezeichnen schien. So wenig war Spinoza Atheist, daß er auch angesichts dieser Wirklichkeit an dem Wert der Gottesidee nie irre geworden ist. Er erblickte geradezu seine Aufgabe darin, diese erhabenste Idee der Menschheit aus der Verstrickung in die menschlichen Leidenschaften zu lösen und auf der Grundlage reiner Vernunft neu zu sichern. Er glaubte, die durch die Affekte des Hasses, der Macht und Habgier verdunkelte Gottesidee durch das neu aufgegangene Licht der naturwissenschaftlichen Erkenntnis wieder erhellen zu können. Damit sollte zugleich ein Weg gewiesen sein, die Menschheit über die Leidenschaft des ideologischen Hasses hinauszuführen und eine neu gesichtete und gesicherte Einheit des Geistes zu gewinnen.

Schon vor ihm hatte der große Kardinal Nikolaus Cusanus gelehrt, daß im unendlichen Wesen Gottes alle Gegensätze zusammenfallen, er sprach von der „coincidentia oppositorum“ und beleuchtete diese Wahrheit durch den Hinweis auf mathematisch-geometrische Verhältnisse und Gesetze. Der Cusaner lehrte auch, daß das Wesen Gottes wegen seiner Unendlichkeit für den menschlichen Verstand unfaßbar sei, er sprach im Hinblick auf diesen Gegenstand von einer „docta ignorantia“, von einer „gelehrten“ Unwissenheit. Damit ging Nikolaus Cusanus von der scholastischen zur mystischen Gotteserkenntnis über. Der begeisterte Giordano Bruno hatte dann die Natur ganz neu, in selbständiger Absolutheit gesehen und erlebt und eine pan-theistisdie Naturmystik verkündet. Doch übte die Scholastik, durch den spanischen Jesuiten Suarez unmittelbar vor Spinoza glänzend repräsentiert, auf unseren Denker, wie grundlegende Begriffsbildungen seiner Philosophie erweisen, den nadihaltigeren Einfluß aus. Denn auch Spinoza konnte sich mit jener Esoterik nicht abfinden, die das göttliche Wesen in die Verborgenheit eines unlösbaren Geheimnisses verwies, das nur wenigen Erwählten im mystischen Erlebnis offenbar würde. Sein ausgesprochen ethischer Sinn wollte die Gottesidee als sittliche Ordnangskraft für die durch Leidenschaften chaotisch zerrissene Menschheit fruchtbar werden lassen. Er war sich darüber im klaren, daß das Ethos einer durch die Gottesidee gestalteten Humanität nur auf dem Wege des Logos einer allen beweisbaren Erkenntnis erzielt werden könne. So wollte er das Ziel der Mystik auf rationalem Wege erreichen. Er wurde auf diesen Weg durch den Aufschwung der Naturwissenschaften verwiesen. Der neue Erkenntnisweg der Naturwissenschaft, durch die Namen Kopernikus, Kepler, Galilei und vorab durch den Zeitgenossen Spinozas, Isaak Newton, bezeichnet, hatte das Bild der Welt wahrhaft revolutionär verändert. Niemand konnte an der sieghaften Entfaltung der auf Empirie und mathematischem Denken fußenden neuen Methode vorbeikommen. Dies um so weniger, als das neue physikalische Weltbild von strenger innerer Geschlossenheit und mathematischer Gewißheit die überlieferte metaphysische Weltansicht aus dem Felde zu schlagen schien. Es ergab sich ein nicht zu übersehender Angriff auf die Gottesidee durch die neue Betrachtungsweise. Gott war Natur, Metaphysik oder Physik war die Frage der neuen Weltauffassung (Spinoza verwandelt das ausschließende in das einschließende „oder“).

Der große Cartesius hatte sich geschickt aus der Affäre gezogen und die Welt einfach i rwei Hälften geschieden: die eine Hälfte, die Außenwelt der Körper, überließ er der neuen Physik, dem strengen Determinismus und Mechanismus, wonach selbst Pflanzen und Tiere nichts anderes als Automaten seien. Aber die zweite Hälfte, die uns zu Bewußtsein kommende Welt unseres Denkens und unserer Gedanken, gehorchte anderen und eigenen Gesetzen, sie ist auch der Ort der Gottesidee, die uns selbstverständlich ist, weil sie uns „angeboren“ ist. Über das Verhältnis der beiden Welten zueinander kommt er jedoch nicht zu einer klaren Lösung, läßt schließlich die Einheit der Welt durch die Wahrhaftigkeit Gottes, die keinen Widerspruch erlaubt, gewährleistet sein. Gerade das Problem der Einheit der Welt und ihrer Ganzheit ist aber das Problem Spinozas, das er von den cartesianischen Ansätzen her entwickelt und gelöst hat. Cartesius hatte ihm einen Grundbegriff, der auf Aristoteles und die Scholastik zurückging, den Begriff der Substanz, hinterlassen. Er verstand aber darunter etwas, das zu seiner Existenz und Erkenntnis keines Fremden bedarf, das also selbständig besteht und erkannt werden kann. Spinoza dachte diesen Begriff in seiner cartesianischen Zuspitzung zu Ende. Es gibt nur eine absolut selbständige und unabhängige Existenz, nur eine wahre Substanz, und diese ist: Gott. Es gibt nur ein Wesen, das ganz aus sich (a se), aus eigener Kraft und Ursache, existiert und erkannt werden kann, und das ist Gott. Es gibt also nicht zwei Substanzen, wie Descartes meinte, Geist und Gott auf der einen Seite und Natur und Materie auf der anderen Seite; Idealismus auf der einen Seite und Materialismus auf der anderen; Metaphysik auf der einen und Physik auf der anderen; sondern es gibt nur das absolut unendliche Wesen, das alles Sein in sich einschließt, in dem sich alfe Gegensätze zu höchster Einheit und Identität verbinden: Gott und Natur (Deus sive natura, wie Spinoza sagt, die Gottnatur, wie Goethe übersetzt). Die „G Ott-natu r“, das ist Wort und Vermächtnis Spinozas an die Welt. Im Menschen aber entfaltet sich die Gottesnatur in der wissenschaftlichen Erkenntnis der Natur und in der ans solcher Erkenntnis entspringenden Liebe zu Gott: amor Dei intellectualis. Im unbedingt sicheren Wissen um die Naturnotwendigkeit alles Geschehens gründet das Erhabensein des Menschen über alle Leidenschaft, die innere Freiheit und der wahre Friede.

Hat man heute noch eine Ahnung von der folgenschweren Bedeutung der spinozistischen „Gottnatur“, dieser theologischen Verklärung des modernen naturwissenschaftlichen Geistes, dieser philosophischen Begründung der neuen naturwissenschaftlich-technisdien Kulturidee, dieser Ausgangsposition für die gesamte typo-logische Weltanschauungsentwicklung bis zu deren gegenwärtiger Endphase? Von Spinoza aus gesehen, ergibt sich auch der uns heute so interessierende Weg, den Streit der Weltanschauungen mit dem typischen Gegensatz von Idealismus und Materialismus und den Widerstreit der sozialen Ideologien mit dem typisdien Gegensatz von Individualismus und Kollektivismus vzu lösen. Diese einz;lncn Systeme dürfen keines für sich die Totalität und absolute Geltung beanspruchen. (Dia furchtbaren Folgen der Totalität haben wir erlebt). Denn die Totalität ist nicht von einer Idee oder Ideologie, sondern vom „Zusammenhang der Ideen“ (Spinoza) also einzig durch die Synthese erreichbar: durch die Konvergenz aller Richtungen auf einen gemeinsamen Schnittpunkt, der aber, wie wir heute, abweichend von Spinoza, der Meinung sind, in der Idee des Menschen, in einer eigen- und nicht naturgesetzlichen Humanität liegt, die allerdings — wieder mit Spinoza — als adäquate, das heißt vollständige Idee auch die Beziehung zu Gott einschließen muß. Darum ist folgerichtig die Idee des Mensdien nicht in der Gottes-Natur, sondern im Gott-Menschen konkret erfüllt, demnach in der christlichen Existenz gegeben, von der allein auch heute die Einheit des Abendlandes gewonnen und geformt werden kann, die Einheit des Geistes — und nicht der Gewalt —, die der Friedensphilosoph aus Dem Haag erträumt.

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