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Gemeinschaft der Gegensätze

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Diejenigen, die berufen sind, einen Staat zu führen, mögen zwei Lehren Piatons nicht vergessen, erstens einmal das Wohl der Bürger so Im Auge zu behalten, daß sie bei all Ihren Handlungen nur auf dieses bedacht sind und den eigenen Vorteil vergessen, zweitens die Gesamtheit der öffentlichen Interessen zu betreuen, damit nicht, während sie ihr Augenmerk nur auf einen Teil richten, die übrigen zu kurz kommen.

Wer aber nur die Interessen eines Teiles der Bürger vertritt und sich um einen andern nicht kümmert, führt etwas Uberaus Verderbliches In die Gemeinschaft ein, nämlich den Geist des Aufruhrs und der Zwietracht. Cicero, de off. I

1930 schrieb Theodor Haeckei sein Werk „Vergil, Vater des Abendlandes“. Dies Buch ist das Denkmal einer großen Angst — der Angst um die Zukunft Europas. Haecker war einer der wenigen wirklich prophetischen Geister seines Volkes (er sagte diesem 1914 den Verlust von Elsaß-Lothringen im kommenden und den Verlust von Ostpreußen im nachfolgenden Krieg voraus), er sah, Schmerz und Empörung im leidenschaftlichen Herzen, den kommenden Untergang begründet „in einer ungeheuerlichen babylonischen Geistes- und Sprachverwirrung, so daß bald keiner mehr den andern versteht, weil hypnotische Schranken errichtet werden“. Ein Blick auf Moskau, die zahlreichen Konferenzen und- Tagungen der Gegenwart zeigt, daß diese babylonische Verwirrung noch zugenommen hat, beziehungsweise sich erst jetzt in ihren mörderischen Fbigen ganz zu enthüllen beginnt. Während die Völker hungern und darben, suchen die Mächtigen und die Ohnmächtigen das Wort... Dieser Satz könnte ironisch aufgefaßt werden, ist es aber nicht: nein, es ist wirklich so. Sie haben nichts Wichtigeres heute zu tun, als das Wort, die Rede zu suchen, denn vom Finden dieses Wortes, dieser Rede h?ngt unser aller Leben und Zukunft ab. Die künftige Welt wird entweder bestehen als eine große Gesprächsgemeinschaft der Gegensätze, oder sie wird nicht sein. — Noch einen dämonischen Monolog erträgt sie nicht mehr.

Wir alle wissen um die Schwierigkeiten, die' sich einer solchen neuen Begegnung der Völker im Wort entgegenstellen, aus eigenster Erfahrung: wie schwer beladen mit Fremdheit schleppt sich oft ein Wort von Mensch zu Mensch, die einander ferne sind, weil jeder in der Burg seines Eigen-Sinns und -Seins sich verschanzt hat. Wir alle' wissen, wie viele bedeutsam anhebende Gespräche uns zerbrochen, ins Leere, „Ergebnislose“ zerfallen sind. Und doch — wir alle leben und zehren noch von den Resten jener einzigen weltgeschichtlichen Gesprächsgemeinschaft, die es bisher gegeben hat: vom Stückleib des Abendlandes. Tragödie des Abendlandes: andere sitzen über Europa zu Gericht, weil es selbst sich als lebendiges Gespräch der Gegensätze aufgehoben hat. Sieg des Abendlandes: das Gespräch geht weiter — für Ausgeschiedene, zumindest zeitweise ausscheidende Partner sind neue eingetreten — in seinem „Untergange“ geht Europa seiner Auferstehung in einem größeren Ganzen entgegen: mögen di zahlreichen Weltorganisationen, welche heute bereits bestehen, von der UNO zur UNESCO, diese Fülle von wirtschaftlichen parteipolitischen, wissenschaftlichen und kulturellen Verbänden und Instituten, noch so beschwert sein mit der Erblast einer dunklen Vergangenheit, mit der Problematik einer diffizilen Gegenwart und den Sorgen einer ungewissen Zukunft — ihr Bestehen und Da-Sein legt Zeugnis ab vom Geist des Abendlandes.

Diese? Abendland, dieses Europa ist von Anfang her nur zu begreifen als Agon, als Streitgespräch der Gegensätze. Dieses Gespräch bereitet sich vor in den dörfischen Liedern der latinischen Bauern, welche sich mit dem Zaubersang der Etrusker und den Stadtgesprächen der Griechen zu „Rom“ verbinden, dem Hellas, älter, geistmächtiger, weil befrachtet mit dem größeren Erstgespräch zwischen West und Ost, sein Erbe zuträgt. Europa — als Einheit vieler Gegensätze — wird dann zum erstenmal Wirklichkeit auf nichteuropäischem Boden

— in den Konzilen der frühen Christenheit, in denen — symbolischer Aufklang! — die Staatsmacht des römischen Kaisers, die Streitlust hellenischer Bischöfe zusammenprallen mit der leidenchaftlichen Spiritualität und der vitalen Geistigkeit des Ostens. Blutigen Ernstes voll sind diese Erstgespräche des Abendlandes; Gemetzel und Mord, Verleumdungen und Verbannungen, Sireit der Parteicliquen drohen immer wieder die werdende Einheit aufzuheben, zu zerstören. Und doch wird, wächst Europa in diesem Gespräch heran. Karls des Großen gesamteuropäisches Reich ist, nach Jahrhunderten der Wirren, Erbe und bereits wieder Aufhebung dieser Symphonie der Gegensätze: es mußte zugrunde gehen, weil dieses Sakralreich des „heiligen“ Kaisers zu einer ungeheuerlichen Diktatur über die Leiber, Seelen und Geister der ihm unterworfenen Völker auszuwachsen drohte und so das Lebensgesetz Europas gefährdete. Dies ist a.uch der tiefere geschichtliche Sinn des Unterganges des „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“ im Mittelalter. Romantische Sehnsucht nach der allumfassenden Einheit, nach der mächtigen, „starken Hand“ verkennt immer wieder, daß weder die Naumburger Stifterfiguren in einem Totalstaat Friedrichs II. von Hohenstaufen noch auch Goethe und Schiller in einem Totalstaat Friedrichs II. von Preußen möglich gewesen wären. Die lebendige Fülle europäischer Entwicklung auch im deutschen Kernraum selbst wäre erwürgt worden durch die mächtigen Hände des „einen“ Herrschers.

Hier stehen wir vor dem Geheimnis des Abendlandes: worin bestand bisher seine Einheit, wenn alle seine Völker immer wieder erbittert gegen den großen Einen im politischen Raum zum Kampf antreten

— gegen Karl den Großen ebenso wie gegen den staufischen Friedrich II., gegen Karl V. wie gegen Napoleon und Hitler. Diese Einheit war im gemeinsamen Glauben gegeben; in der Realistik dieses Glaubens erlebten die Nationen des Abendlandes sich als Einheit im Dienst des einen Weltenkönigs Christus, ersahen aber zugleich, daß kein irdischer Machtherr rechtmäßiger Inhaber der Weltherrschaft als Erbe Christi sein konnte! Diese innere Einheit des Abendlandes im lebendigen, oft furchtbaren, immer aber auch fruchtbaren Streitgespräch seiner Völker zerbricht erst, als die gemeinsame Grundlage, der eine Glaube, zerbricht. Nun entstehen nicht nur die Konfessionen als Sekten, als Teilkörper, welche doch das Ganze zu vertreten beanspruchen, sondern die Nationen selbst werden zu religiös-politischen Sekten. Dies aber ist die Geburtsstunde des modernen Imperialismus. Seine Wiege steht im Zeitalter der Reformationen und Gegenreformationen: Nun zerbricht zum erstenmal „Europa oder die Christenheit“, wie Novalis die Einheit der Vergangenheit betitelt. Nun wird jedes, auch noch so kleine Land zu einem religiöspolitischen Heilskörper, einem Gottesreich, das seinen Glauben, seinen religiösen, politischen, später wirtschaftlichen und kulturellen Lebensstil mit Feuer und Schwert predigend, kämpfend propagiert oder zumindest verteidigt. Seither stehen sich in Europa, wenn auch noch mehr oder minder verhüllt, in sich geschlossene „Gottesreiche“ gegenüber: das kalvinistisch überformte Preußen, in dem der König als „Oberster Bischof“ Glauben, Denk- und Sinnesart seiner Einwohner bestimmt, ist eine ebensolche Sekte wie das katholisch-gallikanische Frankreich des Sonnenkönigs, in dem Huizinga mit Recht den Vater des modernen Militarismus erkannt hat. Zwischen religiös-politischen Parteiungen gibt es aber keine echte Gesprächsgemeinschaft, da jede Sekte sich als Ganzes zu begreifen sucht, als Totalwelt, als einziger Träger des Heils, des Rechts, der Gesittung und Kultur. Die modernen Imperien wie die „Weltanschauungsparteien“ des 19. und 20. Jahrhunderts tragen alle dieses Gift*des Sektiererischen in sich. Deshalb der fanatische Kampf um wirtschaftliche, politische, geistige Geltungsräume, dieser „Missionsanspruch“ der modernen Imperien, die im Eifer ihres Heilsglaubens die gesamte Welt mit ihrer Mentalität, mit ihren Weltanschauungen und Wirtschaftsstilen, ihren politischen Programmen, Eisschränken und Schallplatten beglücken wollen. Diesem sektiererischen Denken entstammt nun auch die Vorstellung von „den zwei Welten“, von der „Welt des Ostens“ und der „Welt des Westens“, die sich als zwei Heilssysteme kämpferisch gegenüberzutreten haben. Es ist die Aufgabe jedes wahren Europäers, gegen diese Vorstellung und ihre Realisierung zu kämpfen — Europa hat hier noch einmal die Chance, sich auf seine alte weltgeschichtliche Sendung zu besinnen und die Gegensätze zu einer neuen Gesprächsgemeinschaft zusammenzuführen —, es ist heute aufgerufen zu einer ungeheuren Arbeit im Räume des Geistigen.

Die Bewältigung und Meisterung des riesenhaften Spannungsgefälles zwischen Ost und West kann nur der denkerischen und seelischen Zucht und Disziplin jener gelingen, welche selbst am meisten dazu beigetragen haben, dieses Spannungsgefälle zu erzeugen. Rußland und Amerika gehören beide im tiefsten zur europäischen Gesprächsgemeinschaft, darüber kann kein Zweifel bestehen. Die Pilgerväter, Steuben und Lafayette, ein Strom besten europäischen Blutes hat die Prärien des Westens verwandelt, die Bedeutung des Einströmens europäischen Geistes nach Amerika seit 1933 ist heute noch nicht abzusehen, sie dürfte jener der griechischen Emigration 1453, nach dem Fall Konstantinopels durch die Türken, gleichkommen: jener Emigration nach Italien, welche die Renaissance mitgeschaffen hat. Aber auch Rußland gehört seit Jahrhunderten zu Europa: im Kampf der „Altgläubigen“ gegen die Staatskirche, der Slawophilen gegen die „Westler“, in der Auseinandersetzung der russischen Denker des 19. Jahrhunderts mit Schelling, Baader, der deutschen idealistischen Philosophie einerseits, in der Aufnahme und durchaus originalen Weiterbildung der Lehren von Marx und Engels im Stalinschen Leninismus andererseits hat Rußland gezeigt, daß es sich selbst als lebendiger Partner am großen geistigen und seelischen Streitgespräch des Abendlandes versteht.

Die jüngsten bedeutsamen Ausführungen Stalins gegen eine starre sowjetische Dog-matik zeigen, daß der dialektische Materialismus auf sein Urwort, das „Dia-Legein“, das fruchtbare Streitgespräch der Gegensätze, nicht vergessen hat. Eine einzigartige Möglichkeit eröffnet sich also heute Europa: es kann sich selbst noch einmal wieder gebären, wenn es, seines Ursprungs eingedenk, sich als Ebene der größten weltgeschichtlichen Begegnungen begreift, es kann sich selbst noch einmal verleugnen und zum Schlachtfeld verdammen, wenn es, als Mutter, einseitig „Partei“ bezieht für den einen oder anderen Sohn! Österreich liegt in der Mitte — dieser Ebene oder dieses Schlachtfeldes —, möge es heute die furchtbare Begnadung verstehen, welche sich in d:cser Tatsache manifestiert: es spürt mehr als andere, .im Magen, in allen Nerven und Fasern sein| Körpers die gewaltige Spannung. Nur dann aber, wenn es diese Zerrung nicht nur in den Eingeweiden, sondern auch in Herz und Hirn peinvoll erregend zu letztem Einsatz des Geistes und der Seele erlebt, wird es beitragen können zu einer „Lösung“, das heißt zu einer Begegnung der Lebenden und nicht der Toten, im Ringen um das Wort, um das heute in allen Bereichen des Menschlichen gerungen wird: um das Wort, das Frieden stiftet in einer neuen Gemeinschaft.

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