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Gen' naen Moskau

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Sein Name war Jona. Aber das wußte er noch nicht. In jener Nacht hörte er die Nachrichten am Radio und fragte sich dabei wohl zum hundertsten Mal, warum Gott Rußland nicht einfach genau so vernichtete wie einige Jahrhunderte zuvor Aegypten.

Und da, gerade in dieser Nacht, geschah es. Es war etwa drei Uhr nachts, als sie in sein Zimmer traten. Genau vor seinem Bett blieben sie stehen; ihr Blick war so eindringlich, daß er aufwachen mußte.

Als er sie erblickte, war er fast gelähmt vor Schreck. Zwei Engel in seinem Zimmer! In der Kirche hatte er natürlich schon hundertmal gesungen, daß die Kinder Gottes von Engeln behütet werden. Aber er hatte sich doch nie so recht klargemacht, daß das tatsächlich wahr sein könnte. Warum sollte man auch immer gleich sein Bekenntnis leben ?

„Wir haben eine Botschaft für dich“, sagte einer der Engel. Sofort war er hellwach, denn er wußte, daß es so etwas heute nicht mehr geben kann.

„Jona“, sagte der Engel, „gehe nach Moskau. Wenn diese Stadt nicht Buße tut, wird Gott sie zerstören. Es ist deine Aufgabe, diese Botschaft den Einwohnern Moskaus zu überbringen.“

„Das ist doch unmöglich“, widersprach er, „denn ...“ Doch da war es schon ganz still und sein Zimmer war leer.

Als er das alles überdachte, wurde er böse. Er hatte etwas erlebt, was einfach nicht möglich war. Und außerdem hatte ihn der Engel Jona genannt. Schließlich ärgert es den Menschen immer, wenn er mit einem Namen benannt wird, der zutrifft. „Ach, ich muß geträumt haben“, dachte er und ließ sich kaltes Wasser über den Kopf laufen.

Doch der Traum verließ ihn nicht. Deshalb schrieb er einen Brief an eine bekannte christliche Persönlichkeit mit der Bitte um einen Rat.

Nach einiger Zeit erhielt er eine Antwort. Jene Autorität war der Ansicht, Jona habe die Botschaft mißverstanden. Eine Reise nach Moskau würde doch Selbstmord bedeuten. Aber sei es nicht Christenpflicht, stets vorsichtig und nüchtern zu sein ? Wäre es deshalb nicht viel richtiger, nach New York zu gehen? Das sei — politisch gesehen — auch längst nicht so gefährlich. Und außerdem gäbe es dort eine Menge 2u tun. Zweifellos hätten die Engel wohl New York gesagt; in seiner Erregung habe der junge Mann dann aber gemeint, es handle sich um Moskau. „Denn Gott verlangt niemals das Unmögliche“, endigte der Brief.

Jona war über dieses Schreiben sehr erfreut und legte es in seine Bibel, weil es seiner Meinung nach dorthin gehörte.

Etwa drei Monate später reiste er mit einigen Mitarbeitern nach New York. Dort angekommen, teilten sie sich die Stadt in Bezirke auf und begannen systematisch ihr Werk. Sie hielten Reden und besuchten Tausende von Menschen. Aber der Widerstand gegen sie wuchs von Tag zu Tag. Er wurde so stark, daß sie ihr Werk abbrechen mußten.

Jona konnte das nicht begreifen. Gott hatte es doch selbst so gewollt?

In der folgenden Nacht erhielt er eine Antwort, und zwar eine Antwort, die der Herr ihm selber gab. „Hast du es denn nicht gemerkt, Jona, daß die Arbeit hier nutzlos ist?“

„Gewiß, Herr, ich habe es bemerkt.“

„Es ist dein eigener Fehler, Jona. Tue, was ich dir gesagt habe; handle nicht gemäß der Weisung, die andere meinen Worten entnehmen. Gehe nach Moskau. Laß deine Begleiter hier. Sie werden erst Erfolg haben, nachdem du diese Stadt verlassen hast. Leb wohl, Jona, ich bin mit dir.“

Aber er protestierte.

Nach seiner Ankunft in Moskau nahm er sogleich Verbindung mit der Kirche auf. Doch die Geistlichkeit hielt nicht viel von Jonas Mission. Man war der Ansicht, daß er scheitern müsse, falls nicht ein Wunder geschehe. Glauben denn Christen heute noch an Wunder? Wunder gehören doch der Vergangenheit an.

Das Wunder geschah. Doch nahm es niemand ernst.

Wenn Jona durch die Straßen Moskaus ging, verloren die Gesichter ihren bedrückten Ausdruck. Auch die harten Gesichtszüge der NKWD-Männer wurden plötzlich viel freundlicher. Die Menschen blickten gespannt auf jemanden, der hinter Jona stand. Dessen Gesicht konnten sie nicht vergessen

— niemand kann das. Außerdem waren sie besorgt, Gott könne ihre schöne Stadt in Ruinen verwandeln.

Und sie taten Buße.

Sie öffneten die Gefängnistüren und gaben den Christen die Freiheit. Als die Nachricht von der Bekehrung der Führer in der Welt bekannt wurde, dankten einige Christen Gott dafür. Doch die meisten vergaßen es. Sie hatten Gott nicht um die Bekehrung dieser Männer gebeten, warum sollten sie ihm jetzt dafür danken?

Und Jona selbst? Als das geschehen war, mietete er ein Zimmer in einem Hotel, das auf einem Hügel in der Nähe Moskaus stand. Denn er war davon überzeugt, daß die ganze Bekehrung Moskaus nur eine große Heuchelei war. Es konnte nicht wahr sein. Denn es ist doch nicht so leicht für Menschen, sich zu bekehren. Natürlich waren sie nur um ihr Leben besorgt. Das lag alledem zugrunde. Doch Gott würde es durchschauen. Er würde Moskau zerstören, wie er verheißen hatte... Ha, ha! Jona sah schon die Flammen über den Häusern zusammenschlagen. Jetzt stand Moskau noch. Aber bald würde es nur noch ein großer Haufen Asche sein. Blut und Feuer und Rauch. Hatte er das nicht auch irgendwo in der Bibel gelesen?

War es in diesem Augenblick? Oder war es einige Tage spät r ? Jona stand wieder an seinem Hotelfenster und blickte über die Stadt seiner Feinde. Da blieb ein Mann vor seinem Fenster stehen und winkte ihm zu. „Komm mit mir“, sagte er, „das wird eine herrliche Nacht für dich werden, Jona. Deine Gebete sind erhört worden. Wir werden zusammen Gottes Gericht über Moskau bewundern können.“

Sie wanderten einige Stunden, bis sie auf der Spitze des höchsten Hügels standen. „Dies ist der beste Platz, den du dir denken kannst; sozusagen Balkonloge“, bemerkte Jonas Begleiter.

Sie machten es sich bequem und warteten.

„Kannst du das kleine Mädchen sehen, das dort geht?“, fragte der Mann. Jona sah sie. Sie kam den Hügel herauf.

„Dieses Mädchen kommt gerade aus der Stadt“, bemerkte der Mann. „Sie hat dort ihren besten Besitz verkauft, denn sie braucht Geld, um ihre kranke Mutter zu unterstützen. Es gibt viel Armut in Utopia.“ Das Mädchen ging an ihnen vorüber und stieg an det anderen Seite wieder den Hügel hinab. „Ein nettes Mädchen, Jona; nicht wahr? In zehn Jahren könnte sie sehr schön sein. Dann könnte sie heiraten und glücklich werden. Doch ... sie wird niemals achtzehn Jahre alt werden.“

„Warum nicht?“ fragte Jona. Der andere antwortete nicht, sondern blickte nur auf seine Uhr.

„Noch fünf Minuten“, sagte er.

Die Minuten krochen langsam dahin.

Vier... Drei... Zwei.....Sieh“, , sagte

Jonas Begleiter plötzlich, „jetzt ist das Mädchen am Fuß des Hügels angekommen. Blick noch einmal gut hin. Du wirst sie nicht wiedersehen. Vielleicht im Himmel, aber ich zweifle daran, daß du jemals dahin kommen wirst.“

Dann zerriß ein Donnerschlag den Himmel und die ganze Stadt im Tal verwandelte sich in ein Feuermeer. Jona sah, wie das Mädchen zusammenschrumpfte und hinfiel.

„O Herr, rette sie“, schrie er.

Gottes Antwort vom Himmel lautete: „Soll ich Moskau nicht zerstören? Es gibt dort Tausende von Kindern, wie dieses kleine Mädchen. Doch nun sind sie tot, alle. Ihre toten Körper liegen auf den Straßen, weil ich mich deinem Wunsche gefügt habe. Jona. Du solltest dankbar sein.“

Doch Jona betete: „Herr, laß es nur ein Traum sein.“

Und — Gott sei Dank — es war nur ein Traum. Als Jona erwachte und begriffen hatte, daß alles nur ein Traum war, öffnete er das Fenster seines Hotelzimmers und betete für die Stadt seiner Feinde. Er blickte in die Ferne, weit über die Hügel im Osten hinweg. Die Sonne stieg über den Horizont und schickte ihre ersten Strahlen über die zahllosen Menschen, die alle einst Kinder waren. .

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