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Ungarische Familiengeschichte, Mutter-Sohn-Hölle, Wenderoman - vor allem aber große Kunst: Attila Bartis kommt zu recht auf die Bestenlisten.

Gerade noch rechtzeitig sind einige von uns Literaturkritikern aufgewacht und haben das Buch auf die Bestenlisten von Südwestfunk und orf gesetzt, den österreichischen Zeitungen freilich war es bislang noch immer keine Rezension wert: Die Rede ist von dem Roman mit dem Understatement-Titel "Die Ruhe" des in Budapest lebenden Autors Attila Bartis. Eine tyrannische, inzestuöse Mutterbeziehung grundiert Alltag und Lebensgefühl des Autors Andor Weér; auch in der Liebe zu Eszter kommt er daraus nicht frei, und nicht einmal den Tod der Mutter empfindet er als Erleichterung. Immer hat er diese Mutter ehrerbietig gesiezt, er hat sie nach Strich und Faden belogen und dennoch jeden ihrer gebieterischen Wünsche erfüllt, als er fünfzehn Jahre lang mit ihr eng zusammenlebte. Denn die Mutter verließ das Haus nicht mehr.

Dabei war Rebeka Weér einmal eine landesweit gefeierte Schauspieldiva, aber als sich ihre Tochter Judit, die begabte Violinvirtuosin, in den so genannten Westen abgesetzt hatte, war es vorbei mit den Hauptrollen. Also veranstaltete sie ein groteskes Scheinbegräbnis der Tochter, und in ihr Grab auf dem berühmten Kerepeser Friedhof, wo viele prominente Schriftsteller und Künstler ruhen, verfrachtete sie alles, was von Judit geblieben war. Doch das war selbst den abgebrühtesten Kommunisten zu viel - der Parteisekretär spuckte ihr ins Gesicht. Also verbarrikadierte sie sich und tyrannisierte den Sohn, der sich, anders als seine Zwillingsschwester, nicht wehrte. Zumindest nicht im wirklichen Leben, nur in seinem Schreiben: "Wenn es sein muß, montiere ich noch zwanzig Sicherheitsketten an die Tür, wenn es sein muß, lüge ich den Nachbarn vor, danke, es geht uns gut, aber was ich auf ein Blatt Papier, din a4, schreibe, geht niemanden etwas an, niemanden auf dieser verfluchten Welt."

Wenn man noch die verzweifelte Liebesgeschichte mit Eszter hinzufügt, die diese einmal in die Abtreibungsklinik und zweimal in die Psychiatrie bringt, und die Lesereise in die Puszta sowie die Verlagslektorin erwähnt, mit der er einen Mix aus Sex und Gewalt genießt, dann ist der Handlungskern schnell erzählt. Und dazu kann man noch anführen, dass dieser Roman die sozialen und psychischen Zerstörungen des Kommunismus in Ungarn und die so genannte "Wende" von 1989 künstlerisch reflektiert - mit einem Seitenblick auf Rumänien, wo der Autor Attila Bartis 1968 im siebenbürgischen Marosvásárhely geboren wurde.

Doch es ist nie der inhaltliche Rohstoff, der einen Roman groß macht, sondern dessen sprachliche Verarbeitung. Bartis ist keiner von den neuen Erzählern, denen die Geschichte, mit der sie ihr Publikum beglücken wollen, wichtiger ist als ein unverwechselbarer Satz. Bartis schreibt kompromisslos und radikal, und wenn er auf einer Seite den Sperrmüll einer Budapester Straße unter seinem sprachlichen Vergrößerungsglas sichtbar macht oder einen Absatz lang das Klischee-Wort "Freiheit" reflektiert, dann erfährt man mehr von den Realien des wirklichen Lebens als in vielen schön ausgemalten Geschichten.

Eine leichte Lektüre ist diese vom harten Licht der Erkenntnis gefärbte Prosa nicht, aber der sprachliche Sog, den sie von Anfang an unerbittlich entfaltet, lässt einen nicht mehr los. Es sind gerade auch die Sex-Szenen, in denen dieser Roman eine Beschreibungspotenz entfaltet, die Sätze und Bilder hervorquellen lässt, wie man sie noch nicht gelesen hat. Wenn die Gipfel einer verzweifelten Lust aufleuchten, ist der Absturz danach in die Ebenen der Alltäglichkeit, in Zerstörung und Zerstörtsein, doppelt schmerzlich. Wie sich das sprachlich realisiert, ist große Literatur.

DIE RUHE

Roman von Attila Bartis

Aus dem Ungarischen von Agnes Relle.

Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005. 300 Seiten, geb., e 23,50

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