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Generalmarsch und Bibel

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Auf dem großen Platz vor dem im Westen der Stadt Jerusalem dort, wo sie ins Gebirge Judah übergeht gelegenen „Haus der Nation” sind die Fahnen von 18 Staaten aus allen fünf Kontinenten aufgezogen. Drinnen, im amphitheatralischen Riesensaal mit mehr als 3000 Sitzplätzen bietet sich ein Bild, ähnlich dem vor zwei Wochen, als man sich hier drängte, um Pablo Casals spielen zu hören. Nun aber ist das Publikum ein wenig anders zusammengesetzt. Intellektuelle, Handarbeiter, fremde Diplomaten, Bauern, braune Yemeniten, neben einem griechischen Archimandrites Franziskaner neben einem Rabbi, schwarze Gentlemen aus irgendeinem sagenhaften Land zwischen weißen Städtern, in den ersten Reihen Minister mit ihren Frauen — unter ihnen Ben Gurion —, der Parlamentspräsident, Richter des Obersten Gerichtshofes — und beinahe jeder mit einer Bibel auf dem Schoß: Der Internationale Bibelwettbewerb wird von Vertretern aus 18 Ländern, die in nationalen Wettbewerben, veranstaltet von ihren Rundfunk- oder Fernsehanstalten, den ersten Preis errangen, ausgetragen.

Punkt acht Uhr blasen militärische Fanfarenbläser oben auf der Galerie den Generalmarsch, das Publikum er hebt sich, und der Staatspräsident mit seiner Frau, gleichfalls die Bibel in der Hand, betritt den Saal. Das in alier Welt einzigartige Fest beginnt.

Einzug der Kandidaten

In alphabetischer Reihenfolge der Ländernamen wird jeder Kandidat einzeln auf gerufen. Vom Applaus der Dreitausend ermuntert, kommt er, linkisch-schüchtern, ernst oder, wie der Holländer, mit einem jungenhaften Grinsen auf die mit den Flaggen der zwölf Stämme geschmeckte Bühne und läßt sich aus dem durch die Flagge seines Landes gekennzeichneten Platz an einem langen, dem Publikum zugekehrten Tisch nieder. Eine Stufe höher, hinter den Matadoren, sitzen an einem ebenso langen Tisch, auf dem, gleichfalls wie durch eine Zauberhand gezogen, das Mikrophon hin- und herwandert, die Übersetzer. Jede Frage wird in die Sprache des Antwortenden und seine Antwort ins Hebräische übersetzt. Die zwei Frauen und die sechzehn Männer, unter ihnen der olivenbraune Israeli Al-schech, ein Rabbi, ein französischer Geistlicher und ein in eine rotgoldene Toga eingehüllter Neger von der Elfenbeinküste, gebrauchen folgende Sprachen: Hebräisch, Englisch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch, Afrikaans, Holländisch, Finnisch und — der Österreicher — Deutsch, besser gesagt, Wienerisch.

Nun nimmt links von ihnen das aus einem Professor der Jerusalemer, einem der Tel-Aviver Universität, dem Direktor des Päpstlichen Bibelinstituts und dem Direktor der Schwedischen (evangelischen) Theologischen Instituts von Jerusalem bestehende Richterkollegium unter Vorsitz eines Richters des Obersten Gerichtshofes — der bis vor kurzem übrigens Generalstaatsanwalt war — Platz. Hinter ihnen fünf gelehrte „Ratgeber”, die eine Art Appellationsgerichtshof bei etwaigen Streitfragen bilden.

Nach kurzer musikalischer Einleitung überreicht ein Polizeioffizier dem Vorsitzenden in einem versiegelten Umschlag die Fragen, welche die Übersetzer, zwei Tage lang in Klausur gehalten, übersetzt haben. Die Spannung des Publikums ist aufs höchste gestiegen, da eine smarte Hostess der Fluglinie EI-AI, welche die Kandidaten ins Land brachte, wo sie Gäste der Regierung sind, aus einer Urne den Namen de? Landes zieht, mit dem begonnen werden soll. Es ist Chile. Einer der Richter liest die Frage, die sofort aus dem Hebräischen ins Spanische übersetzt wird und, zumindest in diesem Fall, auch prompt beantwortet wird. Andere Konkurrenten wieder überlegen und nützen dazu die ihnen zustehenden zwei Minuten bis zur letzten Sekunde aus. Frage auf Frage kommt vom Richtertisch, wird in einer der sieben Sprachen wiederholt, beantwortet oder nicht beantwortet, um unter geradezu ekstatischem Beifall des Hauses vom Vorsitzenden mit Punkten belohnt zu werden. Stundenlang geht das erregende Spiel weiter. Zwischen den Applaussalven derartige Ruhe, daß man selbst auf der Galerie das Umblättern in den Bibeln — des Ministerpräsidenten und des Staatsoberhaupts inbegriffen — hören kann.

Die erste Pause hat das Feld bereits gelichtet. Acht der Konkurrenten sind, die notwendige Punkteanzahl nicht erreichend, ausgeschieden, und die Favoriten zeichnen sich bereits ab: der Vertreter Israels, Rabbi EI-schech und die brasilianische Hausfrau Yolanda da Silva, liegen mit der gleichen Punkteanzahl sozusagen Schulter an Schulter.

Die Fragen sind verschieden schwierig. Einfache, wie etwa „Nennen Sie zwei in der Bibel vorkommende Begründungen der Heiligkeit des Sabbath”, kann der Vertreter Österreichs nur zur Hälfte beantworten, während weit schwierigere, etwa die nach acht biblischen Ereignissen, die an Quellen stattfanden oder mit solchen verknüpft waren, von anderen Konkurrenten ohne Überlegung mit Zitierung der Schriftstelle beantwortet werden. Allmählich kommt der, ob er will oder nicht, fasziniert mitgehende Zuhörer zur Erkenntnis, daß eine geradezu phänomenale Kenntnis des ungeheuren Stoffes Voraussetzung ist. Wenn ein Kandidat auf die an diesem Abend allem Anschein nach völlig einfache Frage „Welches Weib kam in das Land, um peiRia lösen, .-.„ pd.

Fremde kam, um geheilt zu werden?”, ‘‘vom: Vorsitzynden belehrt wird. rlaß es sich um die Königin von Saba und uril den Feldhauptmann Na’aman handelt, geht ein bedauerndes Raunen durch den Saal, das sich dann in frenetische Begeisterung verwandelt, da der Yemenite El-Schech wie eine Maschine, ohne zu überlegen, ohne sich auch nur mit einem Wort zu irren, mit genauer Ortsangabe der Schriftstelle antwortet. Er bekommt schließlich den ersten Platz vor der nicht weniger beschlagenen, aber langsamer überlegenden Brasilianerin, die erst über die letzte Frage stolpert, die dem jüdischen Konkurrenten aus dem täglichen Gebet geläufig sein muß. Die Ovationen, die ihr das Publikum, Minister und Staatspräsident an der Spitze, darbrachten, waren nicht leiser als die, welche dem israelischen Sieger galten. Es ist keine Übertreibung, wenn man berichtet, daß das ganze Land an der Konkurrenz teilgenommen hat. Es gab wohl kein Haus in Israel, ob orthodox, liberal oder atheistisch, wo man nicht bis zum Schluß, bis nach zwei Uhr nachts, beim Radio saß.

Boxkonkurrenz des Geistes?

Aber trotz dieses, wohl in keinem anderen Land möglichen Mitgehens, mehren sich die Stimmen gegen zumindest diese Form der Bibelkonkurrenz. die mit ihrem Punktezählen fatal an eine geistige Boxkonkurrenz erinnert. Überdies, wird argumentiert, ist das rein mnemotechnische Aufstapeln des ungeheuren Stoffes im Gehirn noch keine Gewähr dafür, daß der Gefragte überhaupt eine Ahnung vom Sinn, vom moralischen Inhalt, von den religiösen und geschichtlichen Auslegungsmöglichkeiten, ja überhaupt vom allmenschlichen Wert der Bibel haben muß. Wohl sagt man, zweifellos berechtigt, daß eine derartige internationale Veranstaltung weite Kreise in allen Ländern zur Beschäftigung mit der Bibel, ja vielleicht sogar mit der Sprache der Bibel anregen kann. Ohne Verlagerung des Schwerpunktes aber vom mechanischen Wissen, das, wie bereits von religiösen Kreisen betont wird, leicht zur Oberflächlichkeit und zur Profanierung der Bibel führen kann — zu mehr geistiger Durchdringung liegt der fatale Vergleich mit einem internationalen Sportfest nicht allzu fern.

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