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Genosse Mensch

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Sowjetisches, allzu Sowjetisches.

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Sowjetisches, allzu Sowjetisches.

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„Der Mensch wird geboren, um zu leben, und nicht etwa, um sich auf das Leben vorzubereiten. Das Leben selber, das Phänomen des Lebens, das Geschenk des Lebens — gibt es etwas Ernsteres und Ergreifenderes?“ (Boris Pasternak)

Die Größe der westlichen Gegenwart ist die große Verschwendung. Verbrauch, Konsum, Abnützung, Entwertung. Die Produktion drängt nach. Genießen oder Nichtgenießen, Freude oder Angst, Essen oder An-die-Wand-Werfen, gleichviel, wenn es nur die Müllhalden füllt, die Auto- und die Menschenfriedhöfe, die Kanäle und die Luft. Ein babylonischer Wurm hat sich in seinen Schwanz verbissen und ringelt sich entzückt im Kreise. Ein paar Reservate aus Vergangenheit und Pathos bilden den Spielraum, in dem sich der Tanz entfalten kann. Und siehe, sie beteten ein Kalb aus Plastik an. Die Größe der östlichen Gegenwart ist dagegen die große Sparsamkeit. Mir kam dieser Gedanke zum erstenmal, als ich in den sowjetischen Städten die Urnen sah. Jawohl, Urnen. Sie stehen in den Ecken der Wartehallen auf den Flughäfen und Bahnhöfen, neben den Telephonzellen, in den Parks, an den Prachtstraßen, in der Metro vor der Rolltreppe und nach der Rolltreppe, vor dem Kreml und vor der Universität, im Hotel und in den Bedürfnisanstalten.

Diese Urnen, man errät es, sind die Müll- und Papierkörbe der Sowjetunion. Gaslaternen gibt es längst nicht mehr. Und auch manche andere, sich stets wiederholende Denkmäler kommunalen Dienstes, als da sind Hydranten oder Verteiler der städtischen Gaswerke, fielen mir nicht auf. Geblieben sind die Urnen der Reinlichkeit, die repräsentativen Mist-Amphoren. Ihr nicht eben großes Volumen nimmt spielend auf, was der Sowjetbürger auf der Straße wegzuwerfen hat. Bei uns wären solche Urnen undenkbar. Ihre Löcher wären längst verstopft. Berge von Plastik und Papier türmten sich über sie. Für die große Verschwendung sind die Urnen nicht gebaut Für die große Sparsamkeit reichen sie aus. Sie nehmen dem Akt des Wegwerfens jene zornige Brutalität, mit dem er bei uns gehandhabt wird. Die Geste gewinnt Zärtlichkeit. Hier ist nicht ein Volk von Wegwerfern am Werk, ein Verschleiß-Volk, eine in Zielgruppen eingeteilte Masse, die sich mit zermürbten Nerven durch tausend Verpackungen zum Konsumerlebnis durchbeißt.

Lenin, der große Bruder, der große Genosse, hat zu seinem 100. Geburtstag 80.000 Augen bekommen. Irgendeine Agentur, die es sicher gezählt hat, weiß zu berichten, daß in diesem Jubiläumsjahr 40.000 neue Lenin-Denkmäler hergestellt wurden. Was ist ein Denkmal? Jedes kleine Metallplättchen, rot lackiert, mit golden glänzendem Lenin-Kopf, Münzrelief des Parteicäsars, als Abzeichen um 10 Kopeken feil, an Westtouristen verschenkt wie Faschingsorden, Medaille wider den kommunistischen Ernst? Oder beginnt das Denkmal erst bei den Büsten? Handlicher Lenin, faustgroß die Faust der Oktoberrevolution, noch in die Hosentasche zu stecken? Oder zählt man erst ab Lebensgröße bis zur zwanzigfachen Uberdimension, Lenin, dessen kahler Scheitel die Baumkronen überragt? Zählt man die Profilreliefs an Wänden, an Steinquadern, zählt man die Hausaltäre der Partes in den offiziellen Gebäuden, zählt man Lenin in Kupfer, Zinn und Messing in den Auslagen, Lenin gedruckt und geschnitzt, natur oder koloriert, Lenin in Gips, Lenin in Glas, illuminierbar?

Ich weiß nicht, was die Agentur als Lenin-Denkmal zählt. Aber da die Denkmäler alle enthüllt wurden, wodurch sie sich in keiner Weise von der wichtigsten Funktion westlicher Denkmäler unterscheiden, darf man annehmen, daß es sich um eine Menge von entsprechender Größenordnung aufwärts handelt. Denn daß der Taschen-Lenin für jedermann auch noch enthüllt wird, kann man sich nur schwer vorstellen.

Zu Ehren Lenins wurde in der kommunistischen Wirtschaftsgeschichte das eherne Gesetz der großen Sparsamkeit, nach dem das Angebot die Nachfrage nie übertreffen darf, kühn durchbrochen. Das Lenin-Angebot übertrifft die Kauflust. In den Warenhäusern gibt es eine einzige Abteilung, noch dazu die gepflegteste, die nicht von Käufern umlagert ist. Die hübschesten Verkäuferinnen des Hauses verströmen über einen leeren Tisch hinweg ihr ausgeruhtestes Lächeln. Hinter ihnen im Regal, in allen Größen und Ausführungen, in reichster Auswahl und gediegenster Qualität, in allen Stufen seines Alters und seiner politischen Entwicklung, der eine, der Einzigartige, der Unvergleichliche, Lenin, die Ikone der Revolution.

Da mit diesen Devotionalien kein Persönlichkeitskult getrieben werden darf, vermeiden es die Sowjetbürger ängstlich, sich ihren Lenin öffentlich zu kaufen. Fast eine Stunde lang behielt ich einmal den Devotionalienstand im Auge. Niemand kaufte. Da aber anderseits Lenin überall vorhanden ist und doch nicht wie eine wundertätige Madonna durch geschlossene Türen gehen kann, muß ich annehmen, die Genossen besorgten sich ihre politische Ikone keinesfalls im Warenhaus. Wer weiß, auf welchen Umwegen das Bildnis des Unvergleichlichen in die Häuser gelangt!

Lenin, das sei ohne Neid festgestellt, ist ein Mann von Profil. Die Profildarstellung hängt möglicherweise damit zusammen, daß er unentwegt in die Zukunft blickt, seinem Volk damit ein Beispiel gebend. Diese häufige Profildarstellung hat jedoch eine fatale Folge. Meine Rechnung der 80.000 Augen für 40.000 Denkmäler stimmt nicht. In wie vielen Fällen hat Lenin nur ein Auge? Ein sichtbares Auge nur, dem Tage und dem Bewußtsein zugewandt, das zweite unsichtbar, das rechte, undargestellt in der Nacht des Materials. Kein Januskopf. Jedoch ein Symbol. Das Sichtbare und das Unsichtbare, das Bewußte und das Unbewußte. Einer sieht alles. Einer weiß alles. Auch deine Gedanken und Begierden. Genosse, wie wirst du vor ihm bestehen?

„Chewing gum? Chafoen Sie Chau-gummi?“ Welch jähes Erwachen aus Lenin-Meditationen! Junge Sowjetbürger sehen uns an, unirritiert vom allgegenwärtigen Auge Lenins, fasziniert von unserem westlichen Habitus. Nein, nicht etwa Kinder; Studenten sind es oder junge Arbeiter, sehr ordentlich im Benehmen, keine Halbstarken, zumindest nicht aus unserer Sicht, sehen uns an, grüßen uns, suchen ein Lächeln, ein Gespräch. Und sie wissen es vielleicht nicht anders, können es nicht anders: Am Anfang war der Kaugummi, Fetisch der großen Verschwendung aus dem Westen, Inbegriff des kapitalistischen Luxusgefühls.

Es gibt keinen Kaugummi im Lande der großen Sparsamkeit, im Lande der Urnen, der Lenin-Devotionalien. Warum eigentlich nicht?

Kaugummi ist mit der großen Sparsamkeit unvereinbar. Die Sowjetunion denkt nicht daran, Volksvermögen in eine Sache zu stecken, die so weit von Zweckmäßigkeit entfernt ist Kaugummi, das ist die Tarnung unfrisierter Gedanken, eine Konspiration aus lautlosem Gemurmel, Kaugummi wäre ein Protest gegen die Ordnung dieses Staates, weil Kaugummi die Grenze zwischen Geist und Rede verwischt. Alles kann man sich vorstellen, aber sich vorstellen, wie die unabsehbare Menschenschlange auf dem Roten Platz kaugummikauend auf den Einlaß ins Lenin-Mausoleum wartet, das übersteigt alle Fassungskraft! Es gibt in der Sowjetunion keinen Kaugummi, weil es in diesem Land einfach keinen Kaugummi geben kann, weil Kaugummi unvereinbar ist mit dem System und weil das System alles beherrscht

Das Warenhaus „Gum“, das größte im Lande der großen Sparsamkeit, steht auf der anderen Seite des Roten Platzes, gegenüber dem Kreml, gegenüber dem Mausoleum Lenins. Architektonisch bedeutet das nicht die Konfrontation eines Eloxalpalastes mit einem gotischen Denkmal, beide durch einen Zebrastreifen verbunden, wie man dergleichen in westlichen Hauptstädten finden kann. Das Kaufhaus sieht aus wie ein Palais aus der Gründerzeit. Die Werbung untertreibt. Kein geheimer Verführer lockt Passanten an. In den Auslagen eine eher sachliche Dokumentation des Angebots. Im Inneren ein Winkelwerk von Gängen, Nischen Geländern, Gängen, Treppen und Gewölben. Das diffuse Licht aus der Glaskuppel und die Akustik erinnern an eine gedeckte Ladenstraße in Mailand oder Brüssel. Im Zentrum plätschert ein Springbrunnen, Treffpunkt aller, die sich in dem Trubel verloren haben. Eine unübersehbare Menschenmenge schiebt. Man bewegt sich wie auf einem rollenden Teppich. Etwas verblichene Tafeln mit dem Bild einer typischen Ware zeigen die Abteilungen an: Schuh, Hose, Ball, Gabel, Strumpf, Bett, Photoapparat, Eistüte, Hut. Wenn man die Fortbewegung erst erlernt hat, wie man Schwimmen in der Not lernt, kleine Tempi, kleine Schritte, kräftig atmen, der Schiebeteppich nimmt dich mit, nur keine Angst, jetzt hast du Zeit, dich umzusehen.

Nach einer halben Stunde darf ich wie Moses das Gelobte Land zum ersten Male das Regal mit den Hüten und Mützen schauen. Lenin sei Dank! Zwei Pelzmützen sind noch da. Fixieren, warten, schieben. Niemand schimpft oder flucht. Die glücklichen Gesichter der befriedigten Hutverkäufer im Gegenstrom. Nach einer Stunde am Ladentisch. Verständlich machen, Deuten, die Gleichgültigkeit der Verkäuferin durch ein breites Lächeln brechen. Tatsächlich, sie lacht. Sie hat es erraten. Die vorletzte Mütze auf meinem Kopf. Gesten. Jetzt begreife ich nicht. Die mützenbeauftragte Genossin beugt sich vor, packt meinen Kopf, dreht ihn nach rechts. Richtig, dort, der Spiegel! Spassiba! Mein Antlitz blickt mir entgegen, nickend, breit lachend, glücklich. Zehn Rubel. Eine herrliche Fellmütze.

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