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Georgische Geschichte

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Das Dorf war auf dem Bergabhang gebaut und der Abhang rutschte ... Durch Erdrutsch entstanden mit der Zeit große und tiefe Risse im Boden und den Höfen. Einige Häuser stürzten sogar den phleg-matisdien Bauern auf die Köpfe. Die Bewohner schrieben die ganze Sachlage den Zaubereien der Weiber zu und ließen sonst ruhig über sich ergehen, was eben kommen sollte ...

Es war im Hochsommer 1921 in Georgien. Seit ungefähr einem Monat war ich hier als zweiter Lehrer tätig und bewohnte ein Haus, das oben auf dem Berge wunderlicherweise noch fest auf einem bereits zerspaltenen Boden stand. Hinter dem Haus war ein schöner und dichter Wald. Redits und links führte der Weg ins Dorf, an dessen Ende sah man die Eisenbahnlinie und weit dahinter die Wüste, eine wirkliche Wüste voll Schlangen und Skorpionen, und wenn die Sonne hoch am Himmel stand, flimmerte und gleißte sie wie von Gold überstreut.

Das Haus des Bauern, in dem ich wohnte, hatte nur zwei Zimmer: eines bewohnte er mit seiner Frau, den Kindern und der Mutter, die ihre Rechte im Hause noch aufreditzuerhalten suchte Im andern Zimmer, das auch ich benutzte, wohnte seine blinde Tante. Sie war im Hause geboren und hatte in der Stadt geheiratet. Verwitwet, kinderlos, lebte sie da und hielt einmal eine Art Mädchenpensionat: das heißt, die Dorffraüen vertrauten ihr ihre Töchter an. Die Erziehung bestand darin, daß sie den Mädeln die „gebildeten und guten“ städtischen Manieren und Sitten beibrachte ,und sie noch dazu lesen, schreiben, redinen, kochen und nähen lehrte. Sie soll aber Kinder mißhandelt und schwer geprügelt haben. „Mit einem Eisenstock“, sagte sie oft zu mir, „schlug ich die Mädel und wurde mir dafür von der Gerechtigkeit die Blindheit zuteil.“

So ertrug sie ihre Leiden, das große Schicksal ihres Lebens, als eine ausgleichende Strafe mit der allergrößten Geduld im festen Vertrauen, einstmals vor dem Throne der Gerechtigkeit von allen Sünden reingewaschen zu sein und am Jüngsten Tag als Geläuterte zu erscheinen. Diese bettelarme und blinde Frau hat mich verpflegt und die erste Zeit im Dorfe wäre ich verhungert, wenn sie nicht gewesen wäre. Sie nannte mich städtisch „Grische“ und fügte hinzu, „mein Sohn“. Schlecht zu spredien war sie auf den ersten Lehrer, der, ihrer Meinung nach, mich ausnützte und mir die Gehälter nicht auszahlte. Immerhin hatten die Blinde und die andern Frauen des Dorfes nicht ganz Unrecht: der Lehrer betrog mich. Statt Geld bekamen wir als Gehalt von der Verwaltung Zigaretten und Maiskörner. Er gab mir aber nur die Zigaretten. Wir mußten diese Zigaretten im Dorfe gegen Lebensmittel eintauschen. Der Lehrer

* Griol P e r a d z e. Priester der orthodoxen Kirche, Lektor der georgischen Sprache an der Universität Bonn, einer der bedeutendsten Forscher auf dem Gebiet der altgeorgischen (kirchlichen) Literatur. Professor an der Universität Warschau. 1942 von der Gestapo dort-Selbst erschossen.

hatte seine feste Kundschaft und ich suchte sie auch.

So lebte ich mich im Dorfe sehr bald ein. Der Priester des Dorfes war ein sehr freundlicher Herr und förderte mich so gut er konnte. Er hatte beim Gottesdienst keinen Sänger gehabt, so half ich ihm während der Messe und auf diese Weise verdiente ich etwas.

Nebenbei fand ich auch eine Arbeit. Unweit vom Dorfe war ein großer Weinberg; früher gehörte er einem reichen Armenier, jetzt aber dem Staate. Der Verwalter war mir gut gesinnt und so durfte ich mich da als einfacher Arbeiter beschäftigen. Dafür bekam ich das Dreißigfache meines Lehrergehaltes. Bei der Arbeit lernte ich diese einfachen Menschen kennen, in ihr Innerstes, ihre Seele zu schauen und täglich entdeckte ich unter ihnen neues wertvolles Menschentum, Sonne und innere Musik. Es waren im Grunde gleichmütige, plumpe Menschen, sie schienen schmutzig und roh zu sein, waren mißtrauisch und auf ihren Vorteil bedacht: aber wenn man gewisse Saiten ihrer Seele berührte, mit aufgeschlossenem, aufrichtigem Herzen an sie herankam, ihnen in die Augen sah und das eigene Innere erschloß, dann plötzlich, wie durch magische Gewalt, veränderten sich diese Menschen, sie wurden dann fähig zu Aufopferung, größerer Liebe, Selbsthingabe, die Sonne leuchtete dann aus ihren Augen und man verspürte in ihren Bewegungen den Adel, den die Arbeit den Menschen verleiht und das ewige Ringen für die Wahrheit im Leben. ,

So hatte ich im Dorfe schon einige gute Freunde. Meine beiden Hauswirtinnen wollten mich für immer dort behalten und suchten schon eine Frau für mich. Jedesmal wenn ich abends müde und hungrig aus dem Weinberg nach Hause kam, waren einige Jungfrauen bei uns. Sie tanzten oder sangen, benahmen sich sehr manierlich und versuchten „gebildet“ zu sprechen. Ich aber jagte, meistens diese Mädels davon. Es kam auch öfters eine andere Frau. Sie war älter. Für sie war ich kein vollkommen gebildeter Mensch, da ich die Heldensagen der uralten georgischen Vorzeit und verschiedene Gestalten der georgischen Mythologie nicht kannte. Ich wußte nicht, wem der Fluß gehörte und der Wald und die Wiesen. Welcher von diesen Geistern unser Freund und wer unser Feind ist. Sie war eine Heidin und beherrschte die Beschwörungskunst. Stundenlang rezidierte sie uns die alten Geschichten von den Riesen und den Elfen, den unkörperlichen Wesen, die Engel kamen in den Geschichten dieser Heidin nicht vor. Ich sollte aber doch — so wollte es das Schicksal — in diesem, ich kann fast sagen märchenhaften und verzauberten Dorfe auch von einem weißen Engel hören.

Das geschah so: Es waren noch Ferien, und ich sah den ersten Lehrer nur an Sonntagen. An diesen Tagen ging ich gewöhnlich vormittags zu ihm, besprach, mit ihm verschiedene Berufsangelegenheiten, hörte Neuigkeiten aus der Stadt und las die Zeitungen. Die Schule befand sich tief im Tale. Sie lag mitten in einem alten Weinberg. An dem Sonntag, von dem die Rede ist, traf ich bei ihm einen Hirten. Er mag

etwa ein JaHr junger gewesen sein als ich

und war, wie idi hörte, vor ein paar Tagen von der Alm ins Dorf herunter gekommen.

An diesem Tage habe ich mit dem jungen, schönen Menschen nicht gesprochen und hätte wahrscheinlich seine Existenz ganz und gar vergessen, wenn er nicht am folgenden Tage im Weinberg erschienen wäre; er brachte einem Arbeiter das Essen.

Ich lag im So'iatten eines alten Nußbaumes und blätterte in einem Buche. Neben mir saßen andere Arbeiter. Ich hörte zwar seine Stimme, verstand aber kein Wort; schließlich interessierte mich auch nicht, worüber er sprach. Eine alte Postkarte fiel aus dem Buch heraus und der Wind trieb sie in seine Riditung. Er hob die Karte auf und gab sie mir. Seine Aufmerksamkeit zog das Bild an: ein weißer Engel mit weißen Blumen in der Hand

verkündigte der Jungfrau die frohe Botschaft. Er übergab mir diese Karte und fü gte hinzu: „Ich habe auch einmal solch einen weißen Engel gesehen.“ Einige von den Arbeitern fingen an zu lachen, die andern wurden ernst und eine noch kindliche Stimme fragte plötzlich: „Sag doch einmal, wo du diesen weißen Engel gesehen hast?“

„Mitten in der Wüste“, erzählte er, „in den Felsen gehauen, steht eine Kirche. Im vorigen Jahr war ich da mit meiner Herde und in einer hellen Nacht haben wir einen weißen Engel aus dieser Kirche herausfliegen sehen.“ — „Du solltest hingehen“, wandte er sich zu mir, „und diesen Engel sehen“.

„Ich kenne den Weg nicht“, antwortete ich, „wenn du mich hinführst, gerne!“

„Um diese Zeit ist es sehr gefährlich in der Wüste zu wandern“, sprach die müde Stimme eines älteren Arbeiters, „das Gras ist voll von den Verfluchten!“ Bei diesen Worten spuckte er aus. Unter den „Verfluchten“ verstand er die Schlangen.

„Später habe ich keine Zeit“, sagte Nika, „ich muß auf die Berge, ich habe es versprochen und muß mein Wort halten!“

„Vielleicht ist es besser abzuwarten“, sagte ich, „im Herbst sind auch so schöne Tage und noch einige Feiertage.“ — „Ich habe et versprochen“, sagte der Hirt nochmals, „nnd ich muß mein Wort halten. Ein anderer Mensch wird dir wohl die Kirche zeigen, aber den Engel nicht, nur ich allein!“

Sein Gesicht bekam eine dunkelrote Farbe, die Farbe der Sonne, wenn sie zur Neige geht, seine Auigen glänzten, die Zigarette fiel ihm aus dem Munde, er war ganz wie im Trance, in gehobener Stimmung. Dieser saubere, an seiner Seele reine Mensch schien mir jetzt selbst etwas von dem Engel zu haben, von dem er erzählte.

Am folgenden Tag, es war am Dienstag, noch früh am Morgen, stand Nika mit zwei Eseln vor der Veranda unseres Hauses.

Meine Hauswirtinnen wußten von diesem

Ausflug nichts und waren ganz bestürzt. An einen weißen Engel glaubten sie nicht. „Gehe doch lieber arbeiten“, sagte die Blinde, „du verlierst mindestens zwei Tage Lohn, diese Kirche ist nicht so nah!“

„Den weißen Engel“, ' meinte 3ire Schwägerin, „braucht Ihr nicht so weit au suchen, jeder gute Mensch ist der EngeL Sie können von den Schlangen gebissen werden, von der Sonne verbrannt, von den Fremden überfallen werden!“

Nika ließ sich nicht überreden. Mich reizte die Nähe eines visionären Menschen; ich könnte von ihm interessante Sachen hören, auch die alte Kirche, die Malerei, die Gräber, waren verlockend.

„Wenn ihr wollt, könnt ihr gehen“, sagte die Blinde, „ich fürchte aber, daß das Schicksal euch treibt!“

Jenseits der Eisenbahnlinie fing che Wüste an. Als wir da waren, stand die Sonne schon hoch am Himmel, die Luft war feurig, es wehte kein Wind. Der Esel war störrisch und jede meiner Bewegungen, die ihm nicht vertraut waren, konnte ihn zu den unausdenkbarsten Entschlüssen bewegen. So saß ich still, fest an das Tier geklammert und ließ mich nach vorwärts treiben. Das Gras war schon trocken und wir hörten das Knistern unter den Hufen der Esel. Einmal vernahm ich ganz deutlich das Gleiten einer Schlange. Eine große Angst überfiel mich. Warum mußten wir uns der Gefahr aussetzen?

„Wir müssen zurück, heim“, sagte ich za meinem Genossen. „Im Kloster ist jetzt kein Mensch, die Menschen sind doch von den Revolutionären vertrieben worden.“

„Nein, nein“, wiederholte er, „du mußt dorthin, du wirst ihn sehen, wir sind bald da!“

Die Wüste glich einem großen Ozean, der zu überschwimmen war: keine Insel, kein Baum, keine Rettungsmöglichkeit!

Plötzlich, wie wir so dahinritten, hörte ich einen Schrei. Ich hielt mein Tier an und sah mich um: Mein Gefährte lag am Boden. Irgendwie war er vom Esel gestürzt und war vor eine Schlange gefallen, die ihn in die Ferse biß. Er hatte ganz dünne Schuhe aus Schafleder und der Biß ging durch. Er wollte sich nichts merken lassen, versuchte sogar zu lachen; ich sah aber die sofortige

Veränderung in seinem Gesicht. „Es war nichts“, sagte er, „wir müssen weiter!“ — „Nein“, erwiderte ich, „wir müssen nach Hause zurück!“

Er war wie im Traum. Ich selbst dachte nur daran,“ so schnell wie möglich mit ihm die Eisenbahnlinie zu erreichen.

„Wir müssen eilen“, sagte ich, „so schnell wie es nur geht!“ Und erst später fiel mir ein, ich hätte ihm doch sofort das Gift aus der Wunde heraussaugen müssen. — Es war schon zu spät. „Es ist schade“, sagte er, „du hast den weißen Engel nicht gesehen“.

Du wirst bald selbst ein weißer Engel sein — dachte ich bei mir, schon jetzt scheinst du mir so, aber warum brauche ich dich in solch einer Gestalt zu sehen?

Als Halbtoten brachte ich ihn ins Dorf. Ich,war bedrückter ais alle. An seinem Tod hatte ich keine Schuld gehabt und doch trug ich die Verantwortung. Man machte mir Vorwürfe, warum ich nicht sofort zu der heilsamen Quelle geeilt sei, deren Wasser so gut ist gegen Schlangengift. Die blinde Frau verteidigte mich. Sie und alle schrieben das Unglück dem Schicksal zu und wo dieses Wort fällt, da werden die Leute so klein, so demütig, so gebeugt und keiner wagt etwas zu sagen, einen Protest, eine Anklage zu erheben.

In der gleichen Nacht verschied Nika. Zum Andenken widmete ich ihm ein vier-strophiges Gedicht und ließ es auf seinem Grabstein einmeißeln und pflanzte auf sein Grab einen jungen Granatapfelbaum als Symbol der Hoffnung, daß Menschen wie er im Lande, ja in der ganzen Welt, mehr werden möchten.

Das ganze Dorf trauerte über seinen Tod und es kamen noch lange nachher Leute zu seinem Grab. Es waren meistens seine Altersgenossen und auch die Hirten, die auf die Berge gingen. Sie gössen einige Tropfen roten Weins auf sein Grab, bevor sie den Wein zu seinem Andenken tranken und das Brot brachen.

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