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"Bullshit" wird produziert und Phrasen werden gedroschen, weiß Philosoph Harry G. Frankfurt.

Unter denkenden US-Bürgern muss ein gewaltiger Leidensdruck bestehen. Wie sonst ist der Erfolg - 400.000 verkaufte Exemplare - eines Büchleins zu erklären, das den derben Titel "On Bullshit" trägt? 70 Seiten, ein Essay, trocken geschrieben. Der Verfasser ist der 76 Jahre alte Moralphilosoph Harry G. Frankfurt, der mit großem Ernst eine Theorie von "bullshit" entwirft.

Im Deutschen gibt es kein genau entsprechendes Äquivalent: einerseits ist es ein gängiges Schimpfwort, das man mit "Scheißdreck" wiedergeben muss; andererseits steht es im Englischen in einer Reihe mit Wörtern wie "humbug", balderdash (Gewäsch), "claptrap" (Phrasendrescherei), "imposture" (Schwindel, Hochstapelei) und "quackery" (Quacksalberei, Schwindel). Am nächsten kommt dem "bullshit" das etwas höflichere "humbug": "Insbesondere durch hochtrabendes Gehabe in Wort und Tat irreführende und verfälschende, an Lüge grenzende Darstellung eigener Gedanken, Gefühle oder Erinnerungen." Wort für Wort analysiert der Philosoph Frankfurt die Definition, die er nicht selbst erfunden hat, sondern von einem anderen Denker übernehmend zitiert. Seine wichtigsten Schlussfolgerungen: Die geistige Hochstapelei ist allgegenwärtig. Jeder beteiligt sich daran. Und die Toleranz gegenüber Aufgeblasenheit sei viel größer als gegenüber der Lüge.

Dabei ist der Lügner dem Bullshitter moralisch vorzuziehen, hat er doch eine Vorstellung von Wahrheit, von der er aus vielen Gründen abweicht. Wer lügt, weiß, was wahr ist. Bullshit - der deutsche Übersetzer behält den englischen Begriff bei - produzieren Leute, denen die Wahrheit egal ist. Sie plappern mündlich und schriftlich, um Eindruck zu schinden, reden über Dinge, von denen sie nichts verstehen. Gibt es heute mehr Phrasendrescher als in früheren Zeiten?

Frankfurts Antwort ist indirekt: Je mehr Menschen zu Themen befragt werden, die ihren Wissensstand übersteigen, umso mehr bullshit wird produziert. Es ist klar, auf wen er zielt: auf Politiker, selbsternannte Experten, Gutmenschen, die es für ihre Pflicht als moralische denkende Wesen halten, Ereignisse und Zustände in allen Teilen der Erde zu beurteilen. Gehen die Wogen der öffentlichen Empörung hoch und schweigt ein Künstler, weil er weiß, dass seine Meinung nicht wichtiger ist als jene eines x-beliebigen Staatsbürgers, wird ihm Feigheit oder Kumpanei vorgeworfen. (Man erinnere sich an den Dirigenten Nikolaus Harnoncourt, der sich weigerte, zu den Sanktionen gegen Österreich anlässlich der ersten schwarz-blauen Koalition Stellung zu beziehen.) Für jemanden, der in der Öffentlichkeit steht, ist alles besser als zuzugeben, dass man nicht genügend weiß, um kompetent mitreden zu können.

Hier liegt übrigens die Schwäche des Büchleins von Frankfurt: Mangel an Beispielen, wo sie doch auch in der sogenannten objektiven Forschung zuhauf zu finden sind. Er nennt zwar die von Patriotismus triefenden Ansprachen zum amerikanischen Nationalfeiertag, doch hätte dieser Theorie des "bullshit" mehr Praxisbezug gut getan. Es genügt nicht, die Abkehr von jener Form der Disziplin zu beklagen, die für die Verfolgung eines Ideals der Richtigkeit erforderlich ist. Es genügt auch nicht, für mehr Sachbezogenheit und weniger Selbstdarsteller-Allüren zu plädieren.

Ein Moralphilosoph hätte ruhig aufrufen dürfen zu mehr Bürgersinn gegen den allgegenwärtigen Unsinn: Warum wehren wir uns nicht, wenn in den Medien, aus Politikermund, in gewissen Wissenschaften mehr Meinungen als Fakten geboten werden? Wie könnten Studenten dem Jargon egomanischer Professoren begegnen, der einschüchtert statt aufklärt? Das deutsche Feuilleton klopft sich in den Besprechungen der "bullshit"-Theorie reuig an die Brust.

Die Lösung gegen die grassierende Unsinns-Produktion aus Wichtigtuerei liegt beim einzelnen: Mehr Mut und durch Ironie gezügelte Aggressivität gegen Verblasenheiten täten uns gut. Skepsis ist eine Tugend. Genauigkeit eine Pflicht. Objektivität ein hohes Ziel.

Bullshit

Von Harry G. Frankfurt

Aus dem Amerik. von Michael Bischoff

Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2006

74 Seiten, geb., e 8,30

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