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Gerti P. blieb in Istanbul…

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Mädchenhandel und Harem sind Ojseretten- requisiten geworden (großäugige Schöne singen zu Füßen einer Dattelpalme Koloraturen und der betrogene Pascha dröhnt im tiefsten Baß, wenn er im dritten Akt einsehen muß, daß die Entführung geglückt ist), beides klingt unerhört romantisch. Es gibt ja doch stets ein klangvolles Finale mit Happy-End. Wenn man allerdings die blonde Jane B., 21 Jahre alt, Engländerin, fragen wollte, dann würde man ein anderes Bild bekommen. (Alle Namen sind aus begreiflichen Gründen verändert.) Sie war in London mit einem gutaussehenden Herrn bekannt geworden, der sie bewunderte. Jane war kein ausgesprochen leichtsinniges Mädchen, aber es klang irgendwie einleuchtend, was ihr der Mann erzählte und schmeichelte außerdem ihrer Eitelkeit. Was konnte sie denn schon in ihrem Beruf als Lehrerin verdienen? Reizte es sie nicht, ihre Ferien im lockenden Orient zu verbringen, wo man ihren künstlerischen Talenten die gebührende Würdigung angedeihen lassen würde?

Solche Worte haben immer und überall den gewünschten Erfolg. Jane las deh Vertrag (in französischer Sprache) gar nicht genau durch. Aber auch wenn sie besser Französisch gekonnt hätte, wäre ihr wohl nichts aufgefallen. Da stand als erster Punkt:

„Ich verpflichte mich, im Stadttheater aufzutreten.'

Das klang vollkommen seriös. Auch der zweite Punkt schien vollkommen einwandfrei:

„Ich verpflichte mich ferner, nach dem Willen des Engagierenden auch in jedes andere Haus zu gehen.“

Man denkt bei dem Wort „Haus“ an Sätze wie „Sie spielten vor ausverkauftem Haus" oder „das Ensemble spielte wieder im alten Haus" und so weiter.

Um so peinlicher wird die Ueberraschung, wenn die Betreffende merkt, um was für eine Art „Haus“ es sich handelt. Dann aber läßt sich nichts mehr ändern, auch juridisch nicht, da der Vertrag ja unterzeichnet wurde.

Bedenklicher müßte die kunstbeflissene Bewerberin schon stimmen, daß sie „nach dem Tanz das Lokal nicht verlassen darf“. Aber einige ebenso höfliche wie nichtssagende Worte lassen auch diesen Passus in den Augen der Unterzeichnenden jede Bedenklichkeit verlieren. Wer würde denn auch daran denken, daß sich die betreffende Tänzerin damit verpflichtet, in ihrem — reichlich freigebigen — Kostüm den anwesenden Männern Gesellschaft zu leisten?

Doch soweit denken die meisten schon deshalb gar nicht, weil sie nicht oder aber viel zuwenig Französisch können, um das Schriftstück überhaupt zu verstehen, das sie unterzeichnen.' Man hielte es nicht für möglich, wenn nicht Hunderte von verschiedenen Einzelfällen diese Tatsache bestätigten f Die Psyche eines jungen Mädchens, das sich für talentiert hält, erweist sich in vielen Fällen als reichlich „unkompliziert“ ...

Sie fühlt sich in ihrer Umgebung verkannt, liest in den Illustrierten von märchenhaften Aufstiegen einstmals unbekannter Stenotypistinnen zu Stars oder zu verwöhnten Luxusgeschöpfen, denen ein Pascha oder Fürst (mit einem Schloß am Meer und schwarzer Dienerschaft, die vor der weißen Herrin niederkniet) alle Schätze des Orients und der übrigen Welt zu Füßen legt.

In dieser Stimmung liest man keine Verträge, man hört nur staunend und beglückt zu, was der sympathische Herr mit dem seriösen Aussehen und den fabelhaften Verbindungen erzählt. Man liest auch nicht, daß für jede der auftretenden Artistinnen die Verpflichtung besteht, die Zuschauer zur Konsumation anzuregen. Als Animierdamen.

Was aber wurde aus der vorher erwähnten Jane? Sie kam für 14 Tage als Tänzerin nach Smyrna und trat zusammen mit fünf anderen Mädchen, unter denen sich auch eine 17jährige Deutsche befand, abends auf. Ihr Auftreten dauerte bis gegen 1 Uhr, dann sollte sie die anwesenden Männer amüsieren. Sie schämte sich, aber man zwang sie. Sie weinte und schluchzte, aber man verwies sie auf ihren Vertrag, den sie ja nie hatte lesen können. Schließlich gelang es ihr, wegzulaufen. Wohin sollte sie? Natürlich auf das englische Konsulat. Nahm man sich dort ihrer an, gab man ihr außer scharfen Ermahnun-

man blickte in die Vorschriften und erklärte: Das geht uns nichts an. Punkt.

Eine Bekannte nahm sie . schließlich mit, ein Glücksfall, der nicht allemal eintritt. Auch daß es ihr noch gelang, um die Zahlung der Konventionalstrafe herumzukommen, war eine Ausnahme. 10.000 türkische Pfund (3 5.000 S) hätte sie sonst zahlen müssen. Aber das Unwahrscheinliche gelang ihr: sie kam ohne Zahlung davon. Jetzt ist sie wieder in London, wieder als Lehrerin, wieder in der alten Umgebung, die ihre künstlerischen Ambitionen nicht hatte verstehen wollen. Und sie könnte glücklich sein, wenn sie nicht Dinge erlebt hätte, die sie ihr ganzes Leben lang nicht vergessen wird. Ihre fünf Schicksalsgenossinnen aber sind noch in Smyrna ... Da war die 23jährige Lotte K„ von Beruf Tänzerin, der ebenfalls jener bunte Traum vom Glück den klaren Blick verdunkelt hatte. Was aus ihr geworden ist? Nichts. Sie konnte nicht mehr den Weg zu einem Konsulat finden, nicht mehr davonlaufen, hatte keine Bekannte, die als deus ex machina im richtigen Moment erschien. Auch sie floh aus diesem erbärmlichen Leben, in das sie durch ihren eigenen Willen gekommen war. Aber ihr bot sich keine Tür der Rettung. Nur ein Fenster. Und durch dieses sprang sie, als sie keinen anderen Ausweg sah. Sie ist tot. In Beirut liegt sie begraben. Was aus Rita P. geworden ist, weiß man im Augenblick nicht. Sie trat in Smyrna auf, in einem der „besten" Lokale. Zusammen mit einer kleinen Gruppe von Mädchen. Obwohl sie nicht die moralischen Bedenken Lotte K.s hatte, wurde es ihr zuviel. Da kam der Besitzer des Lokals eines Abends zu ihr: „Schau, mein Kind, das ist doch keine Umgebung für eine Frau wie dich. Du bist schön, du sollst nicht mehr allabendlich auftreten müssen." Er versprach ihr die Ehe. Aber Rita wußte nicht, daß er das gleiche schon einigen Mädchen vor ihr gesagt hatte. Er hatte sie mit sich genommen, und sie waren dann verschwunden. Wohin? Die Polizei weiß es nicht, sie will es auch gar nicht wissen. Die Mädchen hätten ja nicht hierher kommen müssen. Und so weiß man nicht, was aus Rita geworden ist und wo sie steckt.

Hingegen ist der Wohnort von Gerti P„ einer 22jährigen Wienerin, genau bekannt. Als sie im Spital lag, bekam man alle ihre Daten. Sie war mit keiner Truppe gekommen, so etwas tat Gerti nicht. Sie hatte sich mit einem türkischen Ingenieur, der in Graz studiert hatte, verlobt und fuhr nun mit ihm in die Türkei, um dort zu heiraten. Aber der Herr Ingenieur war schon '/ verheiratet er.ha e ine a nd drej, Kipd W Darum,, iwtete er- ihr Wohnung, weil.. „d sie nicht gut mit nach Hause nehmen konnte. Da versuchte Gerti, Selbstmord zu begehen. Sie wurde gerettet. Sie hätte nach Hause fahren können. Sie tat es nicht.

Weshalb? Die Scham, gescheitert zurückzukehren, nachdem man allen Verwandten und Bekannten schon von seinem Glück erzählt hat, ist oft größer, als die Abneigung vor der Prostitution. Und so lebt Gerti noch immer in Istanbul.

Vor einiger Zeit ist wieder ein frischer Schub von Oesterreicherinnen und Deutschen gekommen. Man macht den Neuankömmlingen die „Arbeit" dadurch leichter, daß man sie unter dem Einfluß von Rauschgiften in ihre Tätigkeit einführt. Das beseitigt überflüssige Hemmungen und lästige Gewissensbisse. Nach einiger Zeit finden sie sich schon drein, wenn sie nicht mehr zurückkönnen.

Ich kenne den Mann, der diese Mädchen herbringt. Er ist 47 Jahre alt, Levantiner, und heißt M. (Der Name kann leider nicht genannt werden. Nicht nur deshalb, weil der Mann, der auf der Hauptstraße von Pera, der Istiklae caddesi, wohnt, in allen Ländern Agenten hat und über bessere Verbindungen verfügt als ein ehemaliger Abgeordneter, sondern weil keinerlei gesetzliche Handhabe besteht, gegen ihn einzuschreiten.)

Das ist eben orientalisch: Typisch Türkei! Nein, leider nicht. Denn auch in Oesterreich wurde die „Convention pour la repression de la traite des ėtres humains et l’exploitation de la prostitution d’autrui“ noch immer nicht ratifiziert, obwohl die Vereinten Nationen sie bereits am 2. Dezember 1949 angenommen hatten. Soll man bittere Worte dazu äußern, auf die „alte Kultur Oesterreichs hinweisen und auf die „völkerverbindende Kraft“? Wahrhaftig, man könnte bitter werden, wenn man die „Völkerverbindung" und die „Mission Wiens als Brücke zum Südosten" einmal unter diesem Aspekt betrachtet.

Es wird Ausreden genug geben, die man vorbringen kann, aber um das eine kommen wir nicht herum: nämlich zuzugeben, daß es einen menschlichen Bankrott bedeutet, wenn im ganzen erst zehn Nationen die erwähnte Konvention unterzeichnet haben: Israel, Jugoslawien, die Südafrikanische Union, Norwegen, Polen. Pakistan. Kuba, die Philippinen, Indien und Haiti.

Weit sind wir gekommen, wenn Oesterreich von Haiti beschämt wird.

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