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Geschichte als Zeitkritik

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Friedrich Heer, Universitätsdozent, Redakteur der „Furche”, glänzender Geschichtsschreiber von stu- pendem Wissen und eigenständiger, eigenwilliger politischer Schriftsteller, den man auch einen rückwärts- und vorwärtsblickenden Moralisten nennen könnte, ist außerordentlich vielseitig. Das nehmen ihm viele Einseitige übel. Er ist aber auch sehr vielbändig und, wenn ihm Ethos samt Temperament durchgehen, unbändig. Was wiederum mühselig, wie das sprichwörtlich gewordene Eichhorn, ihre geistige Nahrung Suchende und sie noch mühsamer oder, wie man in der Schweiz sagt, bemühender Verdauende nicht verzeihen. Meiner Ansicht nach ist er, zusammen mit Emil Franzei und Jean-Rodolphe von Šalis, einer aus der Dreiheit überragender Historiker, die beständig in den Randgebieten zur Publizistik hin und her gleiten: Prophete rechts — Franzei, Prophete links — Heer, das Weltkind Šalis in der Mitte. Allesamt gekennzeichnet durch wortkünstlerische, dichterische Begabung (Franzei am meisten, weil er aufs wäh- rendste durch die Begegnung mit Karl Kraus geprägt wurde), durch solide fachliche Vorbildung und durch die Zeitverbundenheit. Franzei, der von der Sozialdemokratie herkommt, ist — halb zog es ihn, halb sank er hin — in eine neuromantische Verschanzung geraten, aus der kein Weg in ein anderes Lager führt. Heer, von jeher dem katholischen und eher dem konservativen Raum zugeordnet, hält es mit dem einst in der Heimat seiner väterlichen Ahnen allbekannten Karl Pfister, der meint, man müsse nur miteinander reden. Er verweilt ununterbrochen im Gespräch mit dem Feind, auf die Gefahr, daß dieser nicht mithört. Er streckt ihm nicht nur die Hand, sondern auch das Herz und — verzeihen Sie das harte, weiche Wort, möchte ich Wippchen variieren — das Hirn entgegen. Noch mit den Schlimmsten, Verstocktesten verfährt er, wie jener evangelische Sträflingsseelsorger, der dem unflätig lästernden Erzverbrecher mit freundlicher Miene und mit den Worten nahte: „Da kommt ja unser liebstes Raub- möiderchen.”

In dieser Haltung Heers sind jedenfalls kindhafte Güte, echte christliche Menschenliebe und Mitleid mit den Armen, Beleidigten, Verfolgten, Verirrten. Es steckt darin aber auch ein beträchtliches Stück forschender Einsicht und dazu politischer Klugheit. Freilich dürfen wir die Schwächen nicht verhüllen, die einen so überzeugten und so oft überzeugenden Optimismus anhaften. Der Nörgler, also der Rezensent, hat die Pflicht, auf sie ebenso hinzuweisen wie auf die vielen Vorzüge, die der Person und dem Werk Heers eignen.

Koexistenz, Zusammenarbeit und damit Einheit in der Vielheit, in der Mannigfalt, entquellen dem Aufeinanderprallen von Widerständen, die, da sie einander nicht überwinden können, hernach ins Gespräch gleiten, Europa ist eine Gemeinschaft der Gegner und der Gegensätze. Ost und West, Verstandesmenschen und dent’Gefühl Hörige! NiSdervölfe und Oberschicht’ entzünden sich am Zusantmėnprall mit den ganz anderen. So ward auch die Reformation zum Segen für die an ihr gesundende Kirche, die Revolution ruft die” kostbarsten Werte der Ueber- lieferung auf. Begegnung mit der „argen” Welt lehrt den reinen Toren die sündige Dekadenz kennen und sie wandeln. Ratio bringt die lähmende oder zum bedrohlichen Wahnsinn treibende Angst zum Schweigen. So etwa dürfen wir Heers Leitgedanken zusammenfassen. Sie sind neu nur in ihrer speziellen Prägung, doch sie gemahnen an staatspolitische und geschichtsphilosophische Weisheit der mannigfachsten Zeiten und Räume. Klingt nicht das Vermächtnis ähnlich, das der heilige Stephan, König der Ungarn, seinem Sohne hinterläßt? Und was, wenn nicht dieses, steckt in dem als tückische List mißbrauchten, an sich so schönem Satz von den hundert Blumen, die zugleich nebeneinander erblühen sollen? Doch die These des Autors wird aus dem erhabensten Mund bekräftigt, der sie ihm vorgesprochen hat: „Im Hause Meines Vaters sind viele Wohnungen.”

Es ist nur logisch, daß Heers großartiges und groß angelegtes Kapitel über Europäisches Christentum im 19. und 20. Jahrhundert sich gegen die dem vorigen Säkulum geläufigen Formen des Katholizismus und des Protestantismus wendet, die — entsprechend der nationalen Abhegung zu jener Zeit — sich in ihren engeren geistig-geistlichen Bezirk einspinnen und die Uniformität ebenso als Hochziel betrachten wie die Zeitgenossen die Uniform als begehrtestes Ehrenkleid und die Universität als Siegelbewahrerin der alleinseligmachenden, voraussetzungslosen Wissenschaft ansehen. Ihn, den an zu engen Wänden, an Sperrgittern Rüttelnden, verlangt es hinaus ins Freie, dahin Katholiken und Evangelische heute nicht nur streben, sondern schon gelangt sind. Nun verhehlt sich Heer keineswegs, daß in dieser freien Gegend, wie das schon seit dem Theater des „Sturm und Drangs” der Brauch ist, Räuber, Mörder, Seelenmörder, philosophierendes, regierendes, wirtschaftendes und (in jedem Wortsinn) kriegendes Gesindel aller Art und Unart sich herumtreibt. Wenn dem die Guten, die Klugen, die Frommen nicht gewachsen sind? Der scharfsichtige Historiker erspürt sehr klar die Säkularisierung, den Selbstzerfall der Christenheit, der Denker von ausgedehntem philosophischem und theologischem Horizont verschließt nicht die Augen vor der Schwierigkeit der Auseinandersetzung zwischen den Konfessionen, innerhalb der Religionsgemeinschaft und gar von Gläubigen zu Ungläubigen. Da bleibt denn als letztes Rezept, oder sagen wir, Heilmittel „Gehorsam gegen die (unholde) Wirklichkeit”, also wenn nicht „Flucht aus der Zeit” — sie behagte nicht dem stämmigen, kerngesunden Heer —, so doch, nachdem man „gelassen alles hingegeben hat”, Hinabsteigen „in den Schoß der Erde” oder „hinauf in die undurchsichtigen Dimensionen, in denen die Hoffnung, die Freiheit und die Liebe beheimatet sind”.

Enthält der eben beurteilte Band über Koexistenz, Zusammenarbeit, Widerstand die Umrisse einer Methode, europäische und christliche Einigung zu erwirken und eine Kritik, eine sittliche Würdigung der Hemmnisse, die ihr entgegenstanden, entgegenstehen, so trägt „Quellgrund dieser Zeit” einen strenger historischen Charakter. Es sind hier elf Aufsätze dargeboten, die irgendwie um das Thema Christentum und Geschichte kreisen. Wir lesen vom Bildungsauftrag des christlichen Historikers, die Relativität der Formen zu zeigen, in denen sich die eine unveränderte Wahrheit nur je einer Epoche und einer Umwelt enthüllt oder verborgen hat. Vom Nonkonformismus seit dem Mittelalter, vom Untergang und von der Wiedergeburt jener dritten Kraft, die sich zwischen starre Gegner als Vermittlerin und als Brücke einschieben wollte, zunächst in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, berichten zwei Kapitel, die, abgesehen von ihrer, bei Heer gewohnten, originellen Deutung der Sachverhalte, besonders ob der Beispiele aus Italien und Spanien — leider nicht oder nur flüchtig aus Polen, Ungarn, aus welchen Ländern viel zu diesem Thema holbar wäre — bemerkenswert sind. Die Wesensschau auf den deutschen Katholizismus von 800 bis 1800 ist eine Art von Gewissenserforschung und zugleich ein Sündenbekenntnis mitsamt den Motiven für den Losspruch von der gebeichteten Schuld. Zuletzt handelt Heer von den Beziehungen zwischen Mensch, Arbeit und Gesellschaft, dann von den inneren, schöpferischen Mächten und von den künftigen Möglichkeiten, die das Europa des ersten Nachkriegsjahrzehnts erahnen oder gar schon sichtbar werden läßt. Das sind zwei gigantische Schauungen, die in das Herz, in den letzten Zusammenhang der Dinge blicken. Heer beglaubigt sich hier selbst als Wege und Auswege weisender Weiser, durch Mitleid wissend und, den Wunsch der Wirklichkeit vermählend, in seiner vom verzehrenden Eifer für die Werkenden beschwingten, dichterisch beseelten Aristeia der Arbeit und des Arbeiters, als der reine Tor. Doch waltete nicht Parzifal glorreich als König in Monsalwatsch?

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