Geschichte keines Helden

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Die Historikerin Anita Kugler schreibt mit "Scherwitz" mehr als nur die Biografie eines jüdischen SS-Offiziers.

Sechzig Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus finden wohl nur mehr die ausgefallensten Geschichten den Weg in die Buchregale und können mit einer gewissen Aufmerksamkeit rechnen. So könnte vielleicht die erste Reaktion auf dieses Buch sein, die Hintergedanken des Rezensenten waren ähnliche. Doch Vor-Urteile sind dazu da überwunden zu werden.

Jahrelange Recherche

Gewissheit, dass mit Anita Kuglers Biografie "Scherwitz" das Ergebnis einer jahrelangen ernsthaften Recherche, die die Autorin durch die ganze Welt geführt hat, vorliegt, stellt sich bereits nach den ersten 20-30 Seiten des mehr als 600 Seiten starken Werkes ein (die Anmerkungen allein füllen fast weitere 100 Seiten). Die restliche Lektüre ist getragen von der Lust an Erkenntnisgewinn und der Bewunderung, dass eine Autorin die richtigen Fragen gestellt und das Gespür für eine Form der Präsentation entwickelt hat, die selbst bei Kriminalromanen nicht sehr häufig ist. So spannend kann Geschichte sein.

Anita Kugler trifft den Nerv unserer Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus, denn ihr Protagonist ist nicht nur Geschichte, sondern reicht weit in die unmittelbare Zeitgeschichte und er zeigt, wie sehr die Beurteilung von der jeweiligen Position und der Interessenslage abhängen und wie schwer es sein kann, zu einem endgültigen objektiven Urteil zu kommen.

Objektives Urteil?

Im Jahr 1948 wird der Regionalleiter für die Betreuung der Opfer des Nationalsozialismus, Dr. Eleke Scherwitz, in München als mutmaßlicher Kriegsverbrecher verhaftet, ihm wird vorgeworfen ein kz-Kommandant gewesen zu sein. In der Folge präsentiert Scherwitz verschiedene Versionen seiner Geschichte, doch er ist mehr als ein Lügner, denn die Geschichte des Gebietes, aus dem er stammt, ist selbst für eingearbeitete Historiker eine Herausforderung.

Biografien sind immer eine Frage der Re(Konstruktion) von Identität, und die kann je nach politischen Gegebenheiten wechseln und dies hat nicht unbedingt etwas mit Opportunismus zu tun. Die verschiedenen Versionen von Scherwitz sind auch ein Musterbeispiel, wie Leben unterschiedlich erzählt werden kann.

Eine Lüge lange betrachtet bekommt fast den Schimmer der Wahrheit. Ist die Lüge bloß die Möglichkeitsform der Wahrheit? Anita Kugler spürt den Lügen oder auch Versionen des Lebens nach, findet Sackgassen und mögliche Erklärungswege.

Die Ausgangssituation ist nicht einfach, denn Scherwitz soll 1910 in Wilna oder Schaulen geboren worden sein, doch die Faktenlage ist "so dünn wie chinesisches Seidenpapier", denn Familien wie die Scherwitz waren Luftmenschen, waschechte osteuropäische Juden, die von irgendwoher kamen, irgendwie lebten und durch alle Volkszählungsregister durchrutschten.

Ein Hochstapler

Scherwitz hat nicht nur die Verhörbeamten Ende der vierziger Jahre in ein Labyrinth geschickt, sondern es Jahre zuvor auch geschafft, die ss zu täuschen mit einem fingierten Lebenslauf, als er angab, aus Buscheruni in Ostpreußen zu stammen - alleine diesen Ort gibt es gar nicht. Scherwitz war ein Hochstapler, markant durch sein großspuriges Auftreten. Er trat 1933 in die ss ein, dementsprechend bedeutete die Versetzung von Berlin nach Litzmannstadt, dass er nicht als Häftling sondern als Bewacher mit einer Polizeieinheit dort Dienst tat.

Wie einer seine eigene Geschichte verschleiert, auch dafür liefert dieses Leben ein Beispiel, dem auch andere gefolgt sind, um dann die Tätigkeit von Polizeieinheiten in Litauen und Riga zu verharmlosen.

Vernichtung der Juden

Rund um die Aufklärung über die Person Scherwitz entsteht ein minutiöses Puzzle über die Vernichtung der Juden in Riga und die Beteiligung deutscher und österreichischer Polizisten und ssler aber auch Militärs und natürlich kommt auch die Frage zur Sprache, ob man sich dem entziehen hätte können.

Der Antisemitismus war eine Konstante in dieser Region unter wechselnden politischen Voraussetzungen: Bevor die Deutschen kamen, waren die Sowjets in den drei baltischen Ländern und später waren sie wieder hier: Der Antisemitismus blieb und wurde nur jeweils anders gewandet.

Fest steht, dass Scherwitz am Washington Platz in Riga, wo ss-Offiziere und sd-Größen lebten, Werkstätten für deren besonderen Bedürfnisse einrichtete und die Arbeiter aus dem Ghetto von Riga anforderte.

Leben gerettet?

Der verkommene Luxus, dem die Bonzen frönten, die Gier, mit der der Besitz der ermordeten Juden in Beschlag genommen wurde, sind wohl selten so eindringlich geschildert worden.

In Rumbula nahe von Riga wurden innerhalb von nur zwei Tagen im Dezember 1941 25.000 Juden erschossen. Scherwitz hat als Leiter der Werkstätten hunderten Jüdinnen und Juden das Leben gerettet. Die Überlebenden des Ghettos haben nach dem Krieg gegen ihn ausgesagt und nicht wenige haben nach Jahrzehnten ihre Meinung revidiert und manche von ihnen bereuten, sich gegen Scherwitz gestellt zu haben.

Dieses Buch ist mehr als eine Biografie, denn es berichtet eindringlich von der Ermordung der Juden in Riga.

Scherwitz war kein Held, aber Gerechtigkeit sollte ihm widerfahren. Die Autorin hat sich darum bemüht und das Ergebnis zwingt dazu einen Sinnspruch abzuändern: Wer eine Geschichte erzählt, erzählt die Geschichte von allen.

Scherwitz

Der jüdische SS-Offizier

Von Anita Kugler

Verlag Kiepenheuer & Witsch,

Köln 2004

758 Seiten, geb., e 30,80

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