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Geschichten von allerlei Neurosen aus erster Hand

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Es ist kein Geheimnis, daß Ärzte und Kleriker besonders gern über Sex und Tod witzeln. Das hat sicher auch damit zu tun, daß sie am häufigsten und intensivsten mit existentiellen Lebensbereichen konfrontiert werden. Worum kann es also gehen, wenn ein Psychoanalytiker, also jemand, dessen Beruf die Berufung des Arztes mit derjenigen des Priesters verbindet, Geschichten erzählt? Um tödliche Erstarrung durch sexuelle Verdrängung! Dabei spielt bei Paulus Hochgatterer die „Nysten-sche Regel", welche besagt, daß die Totenstarre in den zuletzt beanspruchten Körperteilen zuerst auftritt, eine entscheidende Rolle. Oft handelt es sich dabei nämlich um die Kinnpartie, was den Schluß zuläßt, daß der Tote vor Eintritt des Ablebens noch etwas sagen wollte, möglicherweise darüber, was aus psychosomatischer Sicht zu seinem Tod führte.

Deshalb kreist diese Prosa auf einer höheren Ebene um Sprachlosigkeit und ihre Folgen. Obwohl in den Erzählungen eine Menge Blut fließt und die meisten „Helden" sterben, fallen sie keineswegs unter die Gattung Kriminalgeschichten. Die Verbrechen, die Hochgatterer schildert, sind, wie es sich für einen Psychiater gehört, seelischer Natur. So klärt sich denn, „was während der letzten Wochen als Seelengebräu trüb in ihm dahingego-ren war" (wie es am Beginn von „Der Sprengmeister" heißt), nicht selten in der Totenstarre.

In protokollhaft sachlichem Stil werden die alltäglichen zwischenmenschlichen Grausamkeiten mit einem Schuß Zynismus, teilweise auch mit einer kräftigen Portion Selbstironie, aufgetischt. Wer die tragische Geschichte der unglückseligen Dorrit Hermann in den Medien verfolgt hat, kann darin wohl kaum mehr etwas Absurdes finden. Weder in der kurzen Erzählung „Der Vogelzug", die in nahezu klassischer Manier die Entstehung einer Paranoia entfaltet, noch in der Titelgeschichte, in der eine freundschaftliche Beziehung am Verhüllten und dem Verhüllenden (die Assoziation zum Beichstag-Verhüller Christo ist nicht ungewollt) zugrundegeht. Der Autor verhüllt seine katholische Erziehung nämlich unter einer Fülle von christlicher und (wobei die Grenzen fließend sind) sexueller Symbolik, manchmal wiederum spricht er Diesbezügliches recht unverblümt aus.

In der Erzählung „Der Zeuge" verliebt sich der mit einer veritablen Religionsneurose behaftete Ich-Erzähler in eine Zeugin Jehovas. Damit nicht genug, ist er auch noch ein Psychiater, der „keine Sekunde zögern (würde), einen Klienten von der Couch zu weisen, sollte ich Anzeichen von religiösem Fanatismus bemerken". Daß er nebstbei verheiratet ist, muß fast nicht mehr erwähnt werden. Und ausgerechnet so jemand ist plötzlich besessen von „einem Engel Jehovas" und fragt sich nur noch: „Wie krieg ich sie?" Das Rezept zur Behebung dieser Neurose findet sich bezeichnenderweise in der Familiengeschichte Judas', die auch jenen unrühmlichen Bericht über Onan, einen Sohn Judas', enthält. Das Alte Testament ist ja nicht arm an Liebesszenen.

Nicht unerwähnt wollen wir auch die ersten beiden Erzählungen mit den Titeln „Die letzten Arbeitstage des Herrn Klein" und „Jakob" lassen, in denen der Autor offenbar sehr direkt aus der Schule des Seelenarztes „telegraphiert" - denn von „Plaudern" kann bei einer so knappen Sprache nicht die Rede sein. Darin hat der Wahnsinn Methode, auch wenn dem Leser die Möglichkeit zu persönlichen Schuldzuweisungen (und damit Abwälzen eigener Schuld) nicht geboten wird.

Somit ist Paulus Hochgatterers „Psycho-Trip" allen zu empfehlen, für die sowohl die Wege des Herrn als auch jene der menschlichen Psyche unergründlich, aber spannungsreich sind. Sie werden auch gütig darüber hinwegsehen, daß ein von Felix Mit-terer trefflich charakterisierter österreichischer Anbiedermeier im Lektorat es für nötig befunden hat, dem deutschen Leser das Buch mit Ausdrücken wie „Kalbshaschee" oder „Möhren" schmackhaft zu machen.

Dagegen fällt schon kaum mehr ins Gewicht, daß niemandem aufgefallen ist, daß die Zeitschrift der Zeugen Jehovas „Wachtturm" und nicht, wie hier immer zu lesen, „Wachturm" heißt.

DIE NYSTENSCHE REGEL Erzählungen. Von Paulus Hochgatterer. Deuticke Verlag, Wien 199$. 180 Seiten, geb., öS 248,-

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