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Der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel meditiert die historische Bedeutung von Orten und Karten.

Lest Karten, traut euren Augen, habt keine Angst vor dem unübersichtlichen Raum. Das ist in Kürze gesagt die Botschaft des neuen Buches von Karl Schlögel. Auf über 500 Seiten wirbt der Osteuropa-Historiker für die Erkenntnis, dass Geschichte nicht nur zu einer Zeit, sondern auch an einem je spezifischen Ort stattfindet. Ja natürlich, möchte man sagen, natürlich findet Geschichte an einem Ort statt. Braucht man dafür 500 Seiten? Man braucht sie nicht unbedingt. Wenn man aber so glänzend schreiben kann wie Karl Schlögel, ist es auch kein Schaden, wenn man etwas mehr schreibt. Dass seine Botschaft banal sein könnte, ficht Schlögel nicht an.

Paradigmenwechsel in der Wissenschaft würden im Rückblick immer wie das Selbstverständlichste auf der Welt wirken. Einen solchen Paradigmenwechsel hin zu einer verstärkten Wahrnehmung des Ortes fordert Schlögel nicht ein; er konstatiert ihn lediglich. Markante Wendepunkte sind für ihn das Jahr 1989, das ganz Europa neu sortierte: Räume wurden neu erschlossen. Zweiter Wendepunkt ist - das gehört wohl inzwischen zum intellektuellen Standard-Design - der 11. September 2001. Auch bei der Meditation von Ground Zero kann man die Bedeutung des Raumes ermessen.

An Orten sichtbar

Zu lange, so Schlögel, sei der Raum von den Historikern stiefmütterlich behandelt worden. Historische Erkenntnis werde nur in lesbaren Quellen gesucht, so dass manche sich vorstellten, die "Welt als Text" vom heimatlichen Schreibtisch aus lesen zu können. Dagegen fordert Schlögel, an die Orte zu gehen, an denen Geschichte spielte und sich der Unübersichtlichkeit des Raumes auszusetzen. Unübersichtlich ist der Raum, weil dort das Ungleichzeitige gleichzeitig nebeneinander steht: Ein einziger Straßenzug reicht dafür in vielen Städten schon aus. Außerdem geschehen und geschahen in einem Raum viele Dinge gleichzeitig, die wir doch nur nacheinander erzählen können.

Diese unübersichtlichen Räume, folgert Schlögel, könne man angemessen nur schlendernd wie ein Flaneur durchwandern: Ohne ein konkretes Ziel mit hoher Aufmerksamkeit für das, was es zu sehen gibt. Die Augen müssten trainiert werden, damit sie nacheinander Erzähltes zusammensehen können. Und "man sieht nur, was man weiß": Reiseführer und Karten seien nicht nur Hilfsmittel für die Orientierung im Raum, sondern selber Quellen geschichtlicher Erkenntnis. Sie zeigten nicht nur die Lage von Orten, sondern spiegelten Vorstellungen und Interessen ihrer Zeit.

Flanierend ist auch der Stil von Schlögel: In kleinen selbständigen Geschichtserzählungen meditiert er die historische Bedeutung von Karten und Orten: Die Karte, auf der Thomas Jefferson die neuen Staaten einzeichnete, erzählt etwas über das Verständnis des amerikanischen Föderalismus: Es wurde eine Balance von Staaten gesucht, die einigermaßen gleich potent sein sollten, um Machtansammlungen zu vermeiden. Die Vermessung Indiens ist nicht nur Ausdruck der gewalttätigen Herrschaft des Britischen Empire, sondern sie hat den Raum, den wir Indien nennen, überhaupt erst erschlossen - mit allen Folgeproblemen, die bis heute andauern.

Und wenn Schlögel durch das Moskau von 1937 schlendert und notiert, was es da alles nebeneinander zu sehen gab, dann wird eine Gesellschaft sichtbar, die nach der Zukunft hungerte, bevor Stalin alles vermeintlich Vergangene auslöschte.

Viele dieser Miniaturen sind sehr anregend, manches scheint ein wenig beliebig, aber immer ist es leicht und gut erzählt und doch nicht ohne theoretischen Anspruch. En passant entwirft Schlögel die Grundzüge einer Geschichtstheorie aus den Zersetzungsprozessen des Neomarxismus und der Kritischen Theorie. Mit dem Raum versucht er, den Einspruch des Materialismus gegen Idealismus und Ideologie neu zu formulieren.

Was vor Augen ist

Dabei sperrt sich der Raum auch gegen die linken Ideologien: Das zeigt Schlögel an der Verfolgung russischer Landeskundler unter Stalin noch weit vor dem "Großen Terror". Das Konkrete, das vor Ort liegt, was die Leute vor Augen oder - wenn es zerstört wird oder die Menschen vertrieben werden - vor ihrem inneren Auge haben, das sperrt sich gegen gewaltsame oder intellektuelle Gleichmacherei. Letztere kommt meist vornehm als Systematisierung daher.

Ob der Raum alle geschichtstheoretischen Fragen klärt, mag offen bleiben; es ist sicher ein extrem fruchtbarer Ansatz für die Vermittlung von Geschichte: Bei dem anzusetzen, was vor Augen ist.

Im Raume lesen wir die Zeit

Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik

Von Karl Schlögel

Hanser Verlag, München 2003

566 Seiten, geb., e 26,70

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