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Gespenster sind anders

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Ich habe niemals Gespenster gesehen — was man sehen nennt — und bin geneigt, die Geschichten von visuellen Erscheinungen anzuzweifeln. Dennoch bin ich in einem Milieu groß geworden, das das Ubernatürliche mit allen Poren einsog. Wir bewohnten zu Beginn des Jahrhunderts ein.altes Haus, das man in England auf Grund dessen, was sich innerhalb unserer Mauern abspielte, wahrscheinlich niedergerissen hätte. Bei Tag erschien dieses Haus recht heiter, freundlich, wie die Deutschen sagen. Wenn man sich aus dem Fenster neigte, sah man die ersten Bäume der Muette und die Kinder, die mit ihren Kindermädchen in das Wäldchen gingen, in der Nacht aber verwandelten sich die Zimmer, in denen wir in der Dämmerung gespielt hatten, in Orte des Schreckens.

Mein Vater, der Ubersiedlungen nicht liebte, leugnete, jemals etwas gehört zu haben, und meine Mutter konnte nur meinen Schwestern empfehlen, mir nichts zu erzählen, den sie „the baby“ nannte.

Das Baby war damals fünf Jahre alt und begann zu verstehen. Was gab es morgens im Speisezimmer für ein Gezwin-ker, Kopfschütteln und Augenverdrehen! Der Satz, dessen Erinnerung mir am lebhaftesten erhalten blieb und der mir zu denken gab, war jener: „Diese Nacht waren sie wieder schrecklich.“ Ich wußte genau, wovon die Rede war. Nur der Plural erstaunte mich, denn meiner Meinung nach waren „sie“ einfach „das Etwas“, jenes Etwas, das vom Trockenboden aus in das Zimmer meiner Eltern kam, um mein Bett herum und in das benachbarte Zimmer ging, in dem meine jüngste Schwester schlief. Dort war es, wo sich das Greuliche vollzog: das Etwas setzte sich auf den Fuß des Bettes, in dem ein Mädchen von zehn Jahren vor Entsetzen zitterte. Nach den Aussagen jener, die es gesehen hatten, besaß „das Etwas“ kein Gesicht, glich aber einer Frau. Jede Nacht bezog es seinen Posten, und jede Nacht erwachte das kleine Mädchen mit demselben Stöhnen. Um es zu beruhigen, trug man das Bett meiner ältesten Schwester in sein Zimmer, und von nun ab waren es zwei, die das bizarre und melancholische Phänomen sahen.

Ich sah nichts. Ich wußte nur, daß es an meinem Bett vorbeiging, und mein Schrecken dauerte nur zwei oder drei Sekunden, denn ich schlief sogleich wieder ein; öfter aber wurde ich durch ein lärmendes Kommen und Gehen aus dem Schlaf gerissen. Meine Mutter, der ich am bächsten Morgen davon erzählte, sagte mir, daß dies unsere Nachbarn von der Etage über uns gewesen wären. Meine Schwestern warfen sich über meinen Kopf hinweg Blicke zu, die deutlich sagten, daß man ihnen „nichts vormachen könne“. „Die Kinder wissen es“, murmelte Mary, die Spezialistin der

Bande, die Karten aufschlug, aus der

Hand las und ihr Leben nach Voraussagen einrichtete. „Genug“, bat Papa. Er beharrte darauf bis zum Ablauf des Mietvertrages und erkannte dann zum Jubel meiner Schwestern, daß die Wohnung „in der Nacht ein wenig laut“ sei, zu laut, um sie bewohnen zu können.

Wir bezogen also in der Rue de la Pompe, dem Lycee Janson gegenüber, eine Wohnung ohne Besonderheiten. Selbst Mary erspürte nichts darin. Später verließen wir Paris aus Gründen, deren Erörterung hier zu weit führen würde, und lebten drei Jahre in Vesinet, ganz oben in der schönen Avenue de la Prin-cesse, die zu einem See führt. Es gab nichts Ungewöhnliches an der Seevilla und doch denke ich niemals ohne Trauer an das große Haus, denn dort starb am

27. Dezember 1914 unvorhergesehen meine Mutter. In einem Buch, das in Frankreich nicht erschienen ist, habe ich folgendes Ereignis erzählt, das vielleicht nicht unerklärlich ist, das aber meiner Meinung nach viel von einem Mysterium in sich birgt. Einige Tage vor Weihnachten dieses Jaires, saß eine meiner Schwestern bei einem Fenster, von dem aus man das Gartengitter sehen konnte, und rief plötzlich eine andere meiner Schwestern, um ihr etwas zu zeigen: „Siehst du nichts? Diese Männer, die auf eine Leiter steigen und schwarze Tücher über das Gitter spannen...“ Aber Anne sah nichts. Eine Woche später erinnerte sie sich allerdings an diese Worte, als sie sah, wie sich die von ihrer Schwester beschriebene Szene abspielte, die ihne beiden damals so unverständlich erschienen war.

In der Rue Cortambert, wo wir uns gegen Kriegsmitte einquartierten, geschah lange Zeit nichts. Zwei meiner Schwestern, die sich den Kundgebungen aus dem Jenseits gegenüber besonders empfänglich zeigten, waren gestorben, und in gemeinsamem Ubereinkommen sprachen wir, die Uberlebenden, niemals über ein Thema, das nach und nach jede Art von Anziehung einbüßte, je älter wir wurden. Erst 1925 machten sich die ersten Zeichen einer sehr ärgerlichen Angelegenheit fühlbar, aber wir hüteten uns, mit meinem Vater darüber zu sprechen, und ich habe mich oft gefragt, ob auch er es gewußt hatte. Ich konnte in der Dämmerung nicht allein im Salon bleiben. Ich versuchte es, aber es gab immer einen Augenblick, wo ich, weil ich nicht mehr konnte, auf mein Zimmer ging.

Aus diesem Zimmer, wq ich den „Voyageur sur la Terre“ geschrieben hatte, wurde ich eines Tages durch die Anwesenheit eines Jemands vertrieben, den ich sofort erkannte und der sich vielleicht für meine Arbeit interessierte. -Es war zum erstenmal. Alles, was ich hier darüber sagen kann, ist, daß es sich dabei nicht um ein Gespenst handelte. Die Feder fiel mir aus der Hand, und ich befand mich einige Sekunden später auf dem Gang und dann auf der Straße. Welch ein Glück, diese vernünftigen

Gesichter zu sehen, die kein Ding für wahr hielten, das sie nicht als solches erkannt hatten. Ich beneidete sie um ihren guten Hausverstand, gerade seiner Grenzen wegen.

Zu Hause hatten wir uns immer lustig gemacht über die traditionellen Gespenster, die sich gewisse Franzosen mit besonders gutem Willen vorzustellen versuchten. „Wenn sie wüßten, wie das tatsächlich vor sich geht!“ Es wäre gut, wenn uns der Himmel etwas so Greifbares wie den Zipfel eines Schweißtuches oder einen Totenkopf zeigte. Ich sehe fast nie etwas (ein einziges Mal auf der Stiege eines Hauses in der Rue Mont-pensier...), aber was ich höre genügt mir. Das Schlimmste ist, weder zu hören noch zu sehen und doch zu wissen, dal} neben einem ... Aber lassen wir das. Das Thema verleitet zum Lächeln, und ich würde lieber selbst darüber lächeln.

Seither geschah es mir öfter und fast überall, etwas zu hören, das andere, Glücklichere als ich, niemals hören werden. Bis jetzt ist es mir erspart geblieben, zu sehen; das ist schon etwas. Und dann fiel mir auf, daß man sich mit der Zeit an alles gewöhnt. Ich schlafe schlecht. Das Morgengrauen überrascht mich oft ganz wach, und es ist nicht selten, daß um diese Stunde ein armes unruhiges Wesen in einer Art, Mantel der Un-sichtbarkeit durch mein Zimmer geht. Ich kann nicht sagen, daß ich darunter leide oder daß ich davor Angst habe, aber es stört mich. Zweifellos ist es nichts, nichts anderes als die Erinnerung an eine große Angst, die ein wenig zwischen diesen vier Wänden haften blieb wie ein Bild auf einem Negativ. Dies ist, glaube ich, die Erklärung für alle als übernatürlich angesehenen Phänomene. Unsere Gesten, unsere Worte hinterlassen vielleicht Spuren, die einige erkennen, andere wieder nicht. Dieses Thema interessiert mich nur wenig, und ich habe nie daran gedacht, es in einem Roman zu behandeln. Ich glaube nicht, daß es sich dabei um Halluzinationen handelt, aber ich glaube auch nicht, daß jene, die man schaurig Tote nennt, wiederkehren können, um zu uns zu sprechen. Wir gehen zu ihnen, ungefähr wie es in der Bibel steht, sie aber kommen nicht zu uns. als Kind dort, und Du tust, als suchest Du mich. Und wenn Du mich findest, will ich Dich um etwas fragen. Ob Du mich jetzt vielleicht mehr liebst als die drei: ob Du Deine ganze Liebe sammelst, um sie an mich allein verströmen zu lassen.

Du antwortest nicht. Mutter? So bleibt alles, wie es immer wai? Du wirst die drei weiter lieben und ihnen den Platz in Deinem Herzen bewahren, als seien sie nie fortgegangen? Ach, Mutter, Du hättest mich nicht reicher machen können! Denn nun weiß ich, daß ich mit Dir wieder sprechen kann wie früher immer, als Du in unserer Mitte standst und fragtest: Und wer von euch liebt mich am meisten? So schämt euch was, daß ihr es mir nicht sagt!“ Und wir sagten es Dir: wir packten und hoben Dich, daß Du uns bitten mußtest, Dir wieder auf die Erde zu helfen. Aber Du hättest uns ja gar nicht zu bitten brauchen. Glaubst Du, wir hätten Dich in den Himmel davonhuschen lassen?

Dies ist mir das unverlierbare Bild, Mutter. Die Jahre gehen und lassen uns einsamer und vielleicht auch ärmer zurück, das Bild aber treibt. So, wie die drei nicht älter werden vor unseren Augen. Wir werden sie immer so sehen, wie sie waren: jung und mit keinem Geheimnis hinter den Augen. Uber das Bild aber soll jenes Wort geschrieben werden, dav nicht allein im Herzen aller MüUer, sondern aller Menschen stehen sollte: Unvergessen. Dann, so will ich glauben, wird der große Sturm, der wieder vor der Welt steht, nicht aufbrechen, um über Dein und mein Herz und über das aller Mensrhen zu gehen.

Glaubst nicht auch Du es. Mutter?

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