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Gespräch mit Milovan Djilas

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In der Belgrader Palmoticeva-Strafje bewohnt er mit Frau und Sohn eine Mierwohnung; auf dem Briefkasten steht in lateinischer, an der Tür in cyrillischer Schrift: Milovan Djilas. Vor 14 Jahren war er noch einer der vier mächtigsten Männer Jugoslawiens, Vizepräsident, Minister, Politbüromitglied. Zum 1. Jänner dieses Jahres war er nach fünfjähriger Haft begnadigt worden. Unbehelligt empfängt er Besucher in seiner Belgrader Wohnung. Die Jahre der Haff haben ihn alfern lassen; als er vor mir auf dem Sofa seines Wohnzimmers sah — über sich eine Reproduktion der Mona Lisa —, sprach er langsam, bedächtig, mit einer tiefen, ein wenig müden Stimme. Meine erste Frage nach der Zukunft des Sozialismus, des Kommunismus, nach den Aussichten einer Reform beantwortete Djilas ohne Zögern: Sozialismus sei für ihn keine genau umschriebene, konkrete Form der Gesellschaft, sondern ein Prozerf der Wandlung alter in neue, freiere Gesellschaftsformen — im Osten wie im Westen. ▲II das gehe sehr langsam vor sich.

St.: Aber was ist das eigentlich heute noch — Sozialismus?

D.: Niemand kann heute genau erklären, was Sozialismus ist oder gar Kommunismus. All das ist heute in einem Wandlungsprozeß. Die Definition hängt nicht nur von den Verschiedenheiten der Länder ab, auch von den verschiedenen philosophischen Ausgangspunkten. Es geht um mehr Freiheit, mehr Gerechtigkeit, besonders auch in der Wirtschaft.

St.: Nach leninistischen Grundsätzen ist Sozialismus aber stets mit der Machtfrage verbunden!? [

D.: Ja, für Leninisten ist Sozialismus ohne besondere Formen der Macht unvorstellbar. Aber dieses Konzept ist veraltet. Heute gibt es auch in kommunistischen Ländern schon ernsthafte Theoretiker, die darüber anders denken, obwohl sie einen anderen politischen Standpunkt haben als ich, also Kommunisten sind.

St.: Welche sind eigentlich die Hauptpunkte, in denen Sie sich von diesen Theoretikern unterscheiden?

D.: Ich bin gegen diesen monolithischen, einheitlichen, leninistischen oder stalinistischen Typ von Partei. Das ist der wesentliche Unterschied... Ich bin für einen offenen Marxismus, und ich bin gegen die Dialektik. Ich bin zwar Materialist in dem Sinne, wie es die Marxisten sind, aber . ich bin kein dialektischer Materialist.

St: Wie meinen Sie das?

D.: Ich glaube, daß der Dialektik heutzutage etwas Reaktionäres anhaftet.

St.: Meinen Sie damit die Dialektik als Denkmethode oder als Regierungsmethode?

D.: Dialektik ist nur als Diskussionsmethode brauchbar — im alten griechischen Sinne. Eine Dialektik, die der Wirklichkeit selbst eigen wäre, gibt es nicht, denn das Leben, das Universum — sie haben so viele verschiedene Seiten, sie sind so komplex, so voll von verschiedenen Prozessen, daß jede Regel, sei es eine dialektische oder eine andere, ungeeignet ist, die Wirklichkeit zu erfassen. Der Baum des Lebens ist immer grün, und grau bleibt alle Theorie.

St.: Meinen Sie, daß der Kontrast zwischen Theorie und Wirklichkeit eine der Hauptschwierigkeiten des Sozialismus ist?

D.: Ja, alle Ideologien befinden sich im Prozeß der Desintegration — im Westen wie im Osten. Aber zugleich, meine ich, befinden wir uns am Anfang eines Prozesses zur Vereinigung der Welt. Das geht unter Konflikten und mit Kontrasten vor sich, mit Kämpfen auch, aber es ist unvermeidlich. Wir leben aber auch in einer Zeit, in der sich neue Ideologien bilden, die wir noch nicht kennen. Alle Religionen zum Beispiel sind im Wandel, in der Desintegration ...

St.: Sie waren ja noch aktiver Politiker, als es hier in Jugoslawien zur Auseinandersetzung zwischen Religion, zwischen katholischer Kirche und Staat kam. Wie denken Sie heute darüber?

D.: Als denkender Mensch bin ich ganz überzeugt davon, daß menschliche Wesen immer Religion haben müssen, daß sie areligiös gar nicht vorstellbar sind. Ich selbst bin zwar areligiös, ich bin Atheist, aber zugleich ist dieser Atheismus, dieser Materialismus, bei mir auch eine Form von Glauben. Die große Masse der Menschheit wird immer religiös sein. Hier in Jugoslawien ist die Frage der Religion gegenwärtig nicht sehr aktuell, aber sie wird es in Zukunft sein. Die Demokratisierung der Gesellschaft wird das Problem stärker zum Bewußtsein bringen.

St.: Meinen Sie damit die Religion als Faktor des öffentlichen Lebens? Halten Sie neue Konflikte für möglich?

D.: Nein, ich glaube nicht, daß es zu Konflikten kommt. Ich meine auch nicht, daß die Kirche eine große öffentliche Rolle spielen wird, aber es wird sich das Problem einer größeren Freiheit für das religiöse Denken stellen — im philosophischen Sinne. Das wird heute noch gar nicht gesehen. Heute beschäftigt sich die Kirche in Jugoslawien mit Existenzfragen, mit Geld, mit Kirchenbau usw.

St.: Die zukünftige Gesellschaftsordnung, die Sie vor Augen haben, würden Sie doch eine sozialistische nennen?

D.: Natürlich, ohne Vorbehalt. Ich bin heute mehr denn je vom Sozialismus überzeugt, aber nicht im dogmatischen Sinne.

St.: Aber was ist dann eigentlich der Unterschied zwischen dem, was Sie Sozialismus nennen, und dem, was wir als Sozialdemokratie bezeichnen?

D.: Für mich besteht das Problem darin, kommunistische Gesellschaft von heute in demokratisch-sozialistische Gesellschaft umzuwandeln. Für die Sozialdemokraten stellt sich die Frage anders. Sie haben politische Freiheit im Westen, sie müssen eine kapitalistische Gesellschaft in eine solche umwandeln, die vielleicht jener ähnlich ist, die ich im Sinn habe, wobei natürlich die Methoden und natürlich auch einige philosophische Gesichtspunkte verschieden sind.

St.: Meinen Sie, daß die Sozialdemokratie deshalb pragmatischer oder gar opportunistischer wäre?

D.: Ich bin in dieser Gesellschaft auch ein Opportunist, ich bin pragmatisch. Ich bin nicht für' revolutionäre Änderungen im Kommunismus. Das ist gar nicht nötig, denn die kommunistische Gesellschaft kann sich auf friedliche, demokratische Weise wandeln.

St.: Was halten Sie von den Wandlungen, den Reformen, die gegenwärtig in Jugoslawien vor sich gehen?

D.: Die Idee der Reform ist gut. Doch es gibt eine gewisse Dissonanz zwischen den Reformtendenzen und dem politischen Leben. Es ist fast wie der klassische marxistische Konflikt zwischen Basis und Überbau. Das wirtschaftliche Leben geht schneller voran als die politische Organisation, als der politische Überbau der Gesellschaft. Deshalb kann die Reform nicht schnell, sondern nur auf lange Sicht Erfolg haben. Sehen Sie, wir leben in einer gemischten Wirtschaft mit staatlichem, kollektivem und privatem Eigentum. Doch die ökonomische Politik tut so, als ob es nur den sozialistischen Sektor der Wirtschaft gäbe. Die Landwirtschaft hier ist zum Beispiel privat. Aber man kümmert sich zuwenig um die Millionen Menschen, die dort tätig sind. Die Bauern müssen eine größere Freiheit haben im Handel und in der genossenschaftlichen Organisation, auch mehr Eigentum. Zehn Hektar sind nicht genug. Was das System der Arbeiterselbstverwaltung angeht, so sollten die Arbeiter noch viel mehr an der Produktion interessiert werden... Ich habe noch keine ganz klaren Vorstellungen“ in diesem Punkt. Ich wäre dafür, den Betriebsdirektoren mehr Macht zu geben und zugleich den Gewerkschaften größere Rechte. Die Arbeiterselbstverwaltung kann Demokratie nicht ersetzen! Ich bin keineswegs gegen Arbeiterräte; in einer Übergangsperiode zu größerer Freiheit können sie sehr nützlich sein. Denn ich meine keinesfalls, daß man nun in Jugoslawien eine Oppositionspartei organisieren sollte — nein, die demokratische Tendenz muß innerhalb der kommunistischen Bewegung wirksam sein und nicht gegen sie.

St.: Ihre Ansichten stehen wohl im stärksten Gegensatz zu dem, was heute in China als Modell von Sozialismus, von Kommunismus proklamiert wird. Glauben Sie, daß diese chinesische Herausforderung 'die demokratische Reform des europäischen Kommunismus fördert?

D.: So kann man die Frage nicht stellen. China ist etwas völlig anderes. Ich glaube gar nicht, daß es dort wirkliche Wirren gibt, das wirkt auf uns nur so. Es gibt dort einen inneren Machtkampf, ganz ähnlich wie in der Sowjetunion oder der dreißiger Jahre unter Stalin. Aber China wird nicht stalinistisch sein, denn es wird im chinesischen Kommunismus stets mehr religiöse Elemente geben ... Mao wird im Kampf um die Macht erfolgreich bleiben, und China wird so eine wirkliche Weltmacht werden, niemand wird China dabei aufhalten können. Ich meine sogar, daß China ein Recht darauf hat, moralisch und historisch ..-.

St.: Aber ist das nicht auch gefährlich?

D.: Nein, ich glaube nicht, daß China so aggressiv ist wie seine Propaganda ... Ich glaube überhaupt nicht an einen militärischen Konflikt. Die Welt entwickelt sich auf die Einheit hin, und das schließt auch China ein. - =. '.i

St: Und im ideologischen Konflikt mit China — sehen Sie da eine Lösung?

D.: Das ist jetzt noch ein Familienkonflikt, aber in den nächsten 50 Jahren wird sich so vieles ändern, daß es schon kein Familienkonflikt mehr sein wird. China wird dann seinen eigenen Weg gehen, und die osteuropäischen Länder, sogar die Sowjetunion, werden sich auf vielen Gebieten so verändern, daß der Konflikt an Bedeutung verliert.

St.: Meinen Sie, daß so auch die sowjetische Politik in Europa sich ändern könnte?

D.: Ich glaube, die Spekulation westdeutscher Politiker, daß sie den Konflikt zwischen China und der Sowjetunion benutzen könnten, ist irreal. Das deutsche Problem wird früher gelöst werden als dieser Konflikt. Und zwar friedlich. Die westdeutsche Politik gegenüber Ostdeutschland ist zu eng, zu dogmatisch. Alle Dogmen, auch die ostdeutschen, sind nur stark in Zeiten von Konflikten, aber bei normalen menschlichen Beziehungen ändern sie sich. Dogmen gehen dann verloren ...

St.: Es gab auch in Ihrem Leben eine Wandlung, weg vom Dogma. Wenn Sie heute zurückblicken — wie sehen Sie Ihren Weg?

D.: Ich kam aus der revolutionären Bewegung, aber zugleich verlor ich nie das moralische Empfinden — auch wenn ich etwas Schlechtes tat... Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, sehe ich eine gewisse Logik. Das mag für Leute, die mich nicht kennen, schwer verständlich sein. Ich war einmal auf der Linken, links sogar innerhalb des Kommunismus. Ich habe nun ganz andere Meinungen, aber es gibt doch eine Linie in meinem Leben. Wenn ich zurückblicke, möchte ich nichts ändern, nichts Wesentliches. Ich war Revolutionär. Das war in Jugoslawien unvermeidlich, auch in meinem Leben. Ich wäre nicht das, was ich heute bin — wenn ich nicht diese Erfahrung gemacht hätte.

St.: Ist das nicht auch eine Art Dialektik?

D.: Ja, schon, aber nicht so wie bei Hegel. Es gibt da viele Elemente noch: menschliche, psychologische, Erziehung, Familie, meine montenegrinische Herkunft. Wenn ich zurückblicke, sehe ich nicht nur Marxismus in meinem Leben, auch jugoslawische Volksdichtung, den Kampf meiner Vorfahren mit den Türken, gegen Ungerechtigkeit und Armut Als ich noch Marxist war, glaubte ich nicht, daß mich diese Elemente beeinflußten, jetzt sehe ich, daß sie wirksam waren.

St.: In Ihrer Vergangenheit gab es auch Freunde, mit denen Sie gemeinsam gekämpft und dann auch regiert haben. Könnten Sie sich vorstellen, eines Tages wieder mit ihnen zusammenzugehen?

D.: Vielleicht mit einigen politisch. Aber die Intimität der Vergangenheit kann nie zurückkehren. Wir könnten loyal politisch zusammenarbeiten, in einem Kompromiß...

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