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Gespräch mit Neutra

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Der Architekt DDr. Richard J. Neutra (hier während des Interviews für die „Furche“) ist gebürtiger Wiener, lebt in den USA und baut in der ganzen Welt. Er war der Ehrengast des diesjährigen Wiener Europagesprächs

Photo: Czech

„DIE FURCHE“ i Herr Professor, Sie haben vor allem in Ihren ersten Büchern und in Ihren frühen Projekten das amerikanische Klima der Industrialisierung und der hochentwickelten Zivilisation' begeistert aufgenommen ...

NEUTRA: Nein, vielleicht kann ich das so modifizieren, daß ich der Meinung war und bin, daß es möglich ist, unsere menschlichen, organischen Notwendigkeiten besser zu befriedigen mit diesen technischen Mitteln. Wir wissen heute so viel mehr über das Humanbiologische als Aristoteles oder Leonardo, daß wir hier sehr viel tun können. Ich habe das Technische nicht an sich begrüßt, sondern nur als Mittel zu diesem Zweck. Das erste Bedeutende, was' ich baute, hieß das Health House; nicht das Glashaus oder das Stahlhaus, sondern das Gesundheitshaus.

„DIE FURCHE“: Sie haben öfters das Beispiel des Embryos gebracht, das im Mutterleib Bedingungen vorfindet, wie sie später nie mehr auftreten. Ist es nun eigentlich erstrebenswert, in einer Umwelt zu leben,

die dem Menschen überhaupt keine Widerstände entgegensetzt? NEUTRA: Die Natur hat sich jedenfalls in der formativen Periode so entschieden.

„DIE FURCHE“: Und vorausgesetzt, das der Mensch das Bestreben hat, unter möglichst geringen Widerständen zu leben: Ist er selbst imstande, zu erkennen, was für ihn am zuträglichsten ist? NEUTRA: Diese Fähigkeit haben wir zu einem Großteil getrübt und unsicher gemacht. Es ist gar kein Zweifel, daß wir nicht einmal wissen, wie wir unsere Babys behandeln sollen.

„DIE FURCHE“: So muß der Architekt also auch gegen den Willen ... NEUTRA: Der Architekt muß eben biologisch geschult sein. Wenn ich einen Eisbären behausen soll in einem zoologischen Garten, dann muß ich etwas über Eisbären wissen, und ich muß sie sogar lieben, sonst wird nichts draus ... Im letzten Jahr sind rund 98.000 Referate über Humanbiologie gedruckt erschienen, aber benutzen wir das? Nein, das bleibt Gut der Spezia-

listen. Die Leute vor 10.000 Jahren wußten weniger, aber das was sie wußten, benutzten sie täglich. Die Biologie ist ein riesenhaftes Gebiet, und wenn ich von 98.000 Referaten gesprochen habe, so sind die ja nicht alle über einen Gegenstand. Daher werden Sie keinen Biologen -finden, der*- von all diesen Dingen etwas weiß; aber am wenigsten werden Sie einen Architekten finden, der es weiß. Da sehen Sie, wie schlecht die Eisbären dran sind! „DIE FURCHE“: Nun handelt es sich aber nicht um Eisbären, sondern um Menschen, die ihre Umgebung selbst macheu. Richten denn zum Beispiel ihre Wohnung selbst ein .. .

NEUTRA: Wir machen gar nichts selbst. Wir kochen nicht selbst, werden gefüttert nach einem gedruckten Menü . .. „DIE FURCHE“: Ich meine, daß der Mensch gegenüber der selbstfunk-tionierenden Ordnung der Tiere schon dadurch „pervertiert“ ist, daß er über sich und seine Lebensführung nachdenken kann. NEUTRA: So hat er sich ja langsam entwickelt, so ist er ja geschaffen. Daß er sein Gehirn benutzt, ist keine Perversion... Wir haben noch eine lange Entwicklungszeit vor uns, bis wir mit diesem Gehirn auskommen. Wir spielen wie Kinder mit allem Technischen herum, bis es uns ins Gesicht explodiert. Ein Patentanwalt prüft eine Erfindung nach ihrer technischen Seite und ob sie Antezedenzien hat, die Sache wird produziert, weil sie neu und verkäuflich ist. Aber ob sie Sie umbringt oder Ihnen schadet, das wird nicht geprüft. Natürlich gibt es Gesetze, die verhindern, daß man Ihnen offenkundiges Gift über den Ladentisch verkauft, aber das ist eine sehr lückenhafte Gesetzgebung. Wenn die Leute etwas schlucken sollen, überlegen sie vorher zweimal. Aber die Haut ist voller Münder. Man kann sie durch den Feuchtigkeitsgehalt der Luft, durch die Temperatur, durch Farbenkombinationen dazu bringen, daß Sie sich miserabel fühlen und sogar erbrechen müssen, ohne daß Sie irgend etwas geschluckt haben. Sie sind umgeben von Gefahren, die in der Natur nicht vorkommen. Wenn Sie etwas sehen, das in der Natur keine Parallele hat, dann ist der Verdacht, daß es schädigend ist, schon berechtigt.

„DIE FURCHE“: Man hat zum Beispiel einmal geglaubt, es sei schädlich für den Organismus, mit der Eisenbahn zu fahren. NEUTRA: Das ist ja bis zu einem gewissen Grad wahr. Man kann das *heute untersuchen, indem mau alle smedizinischen Parameter mißt von : jemand, der so und so geschüttelt wird ... Das tun wir ja auch; man hat im letzten Jahr 53 Millionen Dollar ausgegeben, um herauszufinden: was passiert mit jemand, den man um den Mond herumschießt? Das hat man bei der Eisenbahn nicht getan.

„DIE FURCHE“: Da ging es auch um Leben und Tod, bei der Eisenbahn aber nur um Behaglichkeitswerte. Es gibt Leute, die die körperliche Beanspruchung etwa beim schnellen Autofahren aktiviert. NEUTRA: Aber alles das kann nicht dem Zufall überlassen bleiben, wir wissen heute zuviel davon. Wenn sich das Leben in einer ungeheuren Dichte abspielt, die Leute sich um ihr Essen anstellen, schnell etwas schlucken und dann ins Büro zurückhasten, können sie sagen, das sei nur unbehaglich, aber es ist mehr als das: es ist meßbar vitali-tätsschädigend. Und die zukünftige Stadtplanung, das zukünftige Arrangieren von physischem Milieu wird von Leuten geleitet werden, die darüber unterrichtet sind, und nicht in dem Glauben, derartiges sei nur unbehaglich. Wir können nämlich in dieser Dichte leben, es sind nicht zu viele Menschen auf dieser Erde. Wir müssen es nur möglich machen. Das wird sehr viel kosten und erfordert auch richtige Propaganda. Propaganda gegen das Gift und für das Natürliche.

Ich möchte noch etwas hinzufügen, nämlich, daß die Tradition einer Stadt wie Wien nicht vom Standpunkt der Sentimentalität angesehen werden soll. Tradition hat sozusagen eine wissenschaftliche Bedeutung. Sie bedeutet, daß man einen Vorgang oder eine Lebensweise immer wieder durch lange Zeit am menschlichen Organismus ausprobiert hat. Die Griechen haben durch 400 Jahre ihre Tempel mit fein nuancierten Veränderungen verbessert, im Einklang mit dem griechischen Auge und dem Auge des griechischen Gottes. Eine Sache mit Verfeinerungen immer wiederholen! Alles ist dieser Art; auch die Kochkunst.

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