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GESPRÄCH MIT PIRANDELLO

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Zur Wiener Festwochenaufführung von Pirandellos „Heinrich IV.“ durch das Burgtheater bringen wir folgendes Gespräch, das Säri Juhäsz in den dreißiger Jahren in Rom mit Luigi Pirandello führte. Das Interview erschien zuerst in einer ungarischen Wochenzeitung anläßlich der Budapester Premiere von „Heinrich IV.“; die deutsche Übertragung stammt von der Verfasserin.

Wo in Rom aus der prächtigen Villenstraße Via Nomentana die Via Antonio Bisio abzweigt, wohnte in den dreißiger Jahren dm Hause Nummer 15 Luigi Pirandello, der ungekrönte König der italienischen Literatur. Allerdings nur in den spärlich bemessenen Zeitspannen, die er wirklich in Rom verbrachte, denn die meiste Zeit war er ja unterwegs — In Sizilien, in Paris, in Amerika. „Am liebsten klemme ich meine Schreibmaschine unter den Arm“, pflegte er zu sagen, „und fahre blindlings los...“

Der livrierte Diener führt mich durch die elegante, pompös möblierte Wohnung. Im riesigen Bibliothekraum kommt mir Pirandello lächelnd, die Hände ausgestreckt, entgegen. Auf dem geschnitzten, mit Zeitunigen, Büchern, Mappen und Manuskripten überladenen Schreibtisch ein einziges Riesenphoto in Silberrahmen: Greta Garbo. Auf einem kleinen Tischchen steht die obengenannte Portable mit einer halbfertigen Seite des jetzt werdenden Romans.

Er bietet mir in einem tiefen Fauteuil Plate an und bringt eigenhändig den Kaffee nebst ägyptischen Zigaretten. Er selbst sitzt auf einem harten Sessel.

Was ist Ihre Meinung über die moderne Literatur? — ist meine erste Frage.

Nichts — antwortet Pirandello. Wie kann ich eine Meinung über etwas nicht Existentes haben?! Ich habe das Theater nicht gern und weiß auch nicht mehr, wann ich das letztemal dringewesen bin. Man spielt überall, wohin man nur blickt, die unmöglichsten Stücke, die überhaupt keine Beziehung zum Leben haben. Agierende Papierfiguren, Operetten ohne Musik. Womöglich mit Happy-End, zur Beruhigung der Gemüter. Es scheint mir so, als ob sich unsere Bühnenautoren entschlossen hätten, das Leben, je komplizierter, mit Problemen und Ungewißheiten es beladener wird, desto einschichtiger und einfacher projizieren zu wollen. Möglicherweise haben sie recht, da den Menschen die Komplikationen des Lebens sowieso schon beim Halse heraushängen, so daß sie am Abend, wenn sie sich ins Theater setzen, ihre Sorgen bei gutem Amüsement vergessen wollen. Meiner Meinung nach aber ist es nicht die Pflicht der Dramatiker, den Publikumsgeschmack zu bedienen, sondern das Entdecken jenes geheimnisvollen, aufregenden, unverständlichen Etwas, das „Leben“ genannt wird...

Wieso? — Sie verkünden, daß das Drama die Probleme des realen Lebens widerspiegeln soll? Wo doch alle Ihre Dramen den festen Boden der Realität verlassen, um den Zuschauer in eine imaginäre, fiktive Welt zu führen. Meinen Sie? — Ich glaube nicht, daß das stimmt. Ich gebe nur eine neue Konzeption der Realität. Man soll, nicht meinen, daß die Realität' ir|endeirie tote Sache sei, wie eine Statue, die ewig und unveränderlich ist. Eine solche Realität gab und gibt es überhaupt nicht. Sie ist in der einen Sekunde so, um in der nächsten wieder anders zu werden. Dem einen scheint sie so, dem andern wieder verschieden — in der einen Minute scheint das erste das Wahre zu sein, in der anderen das Verkehrte! Wer hat recht? Jeder.

Wir Menschen können die Realität selbst nicht sehen, geschweige, daß wir imstande wären, uns ihrem wahren, inneren Wesen zu nähern. Wir vermögen sie bloß in ihren Offenbarungen zu fühlen, und so müssen wir sie selbst durch diese momentanen Offenbarungen zum Leben erwecken. Das Leben ist unsere allerpersöniichste Kreation, die wir immer neu formen müssen, in jeder Minute unseres irdischen Daseins. Auch Gott hat die Welt nicht in sechs Tagen geschaffen und sah dann am siebenten, daß alles in Ordnung sei. Auch Er hört nicht damit auf, sie immer weiter zu knieten, umzuarbeiten und neu zu gestalten.

Sie glauben also nicht an die absolute Wahrheit?

So etwas, wie absolute Wahrheit, gibt es überhaupt nicht. Nichts ist wahr und zur gleichen Zeit auch olles. Dieser Vorhang hier ist zum Beispiel rot. Wenn es dunkel wird, ist er schon schwarz. Wenn Sie die Augen schließen, verschwindet er. Wer könnte mit Sicherheit behaupten, welches seine wahre Form ist? Wie können wir es beurteilen, ob er rot oder schwarz, oder ob er überhaupt in der Wirklichkeit existiert? Wir müssen uns damit begnügen, es solange als Realität zu betrachten, wie wir es sehen und es als solches anzuerkennen, wie wir es empfinden. Wir aber müssen nicht nur die Wirklichkeit, sondern auch die Wahrheit in jeder Minute neu kreieren. Die menschliche Seele, der Geist, ist nichts anderes als „esprit createur“.

Und der Mensch? Die Persönlichkeit? Genauso, wie die Gegenstände nicht in der Wirklichkeit,sondern bloß in unserer Vorstellung vorhanden sind, so existieren auch die Menschen nicht. Die Persönlichkeit ist kein angefertigtes und für ewige Zeiten abgeschlossenes Etwas, sondern die ständige Wechselwirkung zur Umgebung. Ich selbst bin nicht so oder so, höchstens sehen Sie mich als solchen, während ein anderer mich schon anders sieht. Wo liegt der Beweis, wer recht hat?! Ich selbst weiß ja nicht, wer und wo und wie ich bin. Im besten Falle stelle ich es mir irgendwie vor. Aber woher kann ich es wissen, ob ich mich richtig vorstelle? Nicht dort liegt die Wahrheit, daß ich existiere, sondern in der Tatsache, daß mein Ich und meine Persönlichkeit — falls es überhaupt wahr ist, daß ich lebe! — ein sich in jeder Minute wandelnder Prozeß ist. Nichts anderes kann als Maßstab der Realität und der Wahrheit dienen als die empfindende Person.

Wenn wir aber auf diese Weise bis zu der Philosophie der griechischen Sophisten zurückkehren, etwa bis Par-menides, wie können wir uns dann zwischen den Dingen der Welt zurechtfinden?

Es ist die Notwendigkeit, die uns zwingt, bestimmte Formen zu kreieren. Wir sind im praktischen Leben darauf angewiesen, Dinge und Menschen mit Stabilität zu bekleiden; aber wir dürfen niemals vergessen, daß all dies bloß eine willkürliche Schöpfung ist. Die Menschen erschufen sich eine Welt, um sich in den Dingen des Lebens orientieren zu können. Und dann warfen sie sich vor ihrer eigenen Schöpfung anbetend in den Staub, als ob nicht sie die Dinge geschaffen hätten, sondern als ob es gerade umgekehrt wäre!

Meine Weltanschauung ist weder neu noch modern — Sie selbst haben ja die griechischen Sophisten erwähnt. Man kann aber noch weiter zurückgreifen — bis Heraklit, zum „Panta rhei“. Alles fließt. Das Leben ist ein Strom. Er steht nie, für keinen einzigen Augenblick, still, er fließt unbarmherzig, ohne Ruhepunkte, in einem fort weiter. Ruhepunkte, Lehren und Konklusionen — sie alle werden nur von uns ins Leben hereingedacht. Und dann noch von jedem einzelnen auf seine eigene Art,

Wie aber können wir im Drama oder in den anderen Künsten diese ewig fließende Realität widerspiegeln? Indem wir die Dinge vom Gesichtspunkt aller widerzuspiegeln versuchen. Wir schildern den Kampf der Gesichtspunkte, anstatt den der Dinge. Von je mehr Seiten wir die gleiche Sache betrachten, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, daß wir uns ihrer mystischen Substanz genähert haben.

Wissen Sie, was die wahre Tragödie des Menschen ist?

Die Tatsache, daß er sich selbst das Leben konstruiert, und dann rebelliert seine eigene Reaktion gegen ihn, um im nächsten Augenblick schon gänzlich seiner Macht zu entgleiten. Der Schöpfer ist zu neuem Schaffen gezwungen. Und so geht es dann immer weiter, bis ans Ende der Zeiten.

Sind Sie also Pessimist? Aber nein! Ich bin Aktivist. Ich schaffe. Wie könnte man Welten mit Pessimismus erstehen lassen?! Kann Gott Pessimist sein? Er könnte ja dann nicht mehr schaffen. Schaffen ohne Glauben ist unmöglich. Gott ist der größte Schöpfer.

Es ist ja nicht nur das schön, was ein erreichbares Ziel hat. Ganz im Gegenteil: Was man erreichen kann, hat seinen Wert verloren. Die Schöpfung ist das Leben — das Unabänderliche und ewig Beharrliche der Tod. Und immer und immer neu beginnen — ist denn nicht das der wahre Optimismus?!

Wer sind Ihre Lieblingsdramatiker? Die Griechen, Shakespeare, Ibsen, Shaw. Die griechischen Tragödien waren viel religiöser und daher menschlicher als die Mysterienspiele des Mittelalters. Die mittelalterlichen Mysterienspiele haben mit fertigen Götterbildern gearbeitet, wogegen die griechischen Tragödien die Götter immer wieder umgeformt präsentieren — sie gaben ihnen Leben, Bewegung und Verwandlung. Im Gegensatz zu den toten mittelalterlichen Göttern waren sie lebendig. Auch Shakespeare hat ja die Welt neugeboren! Aber es ist Ibsen, den ich als meinen unmittelbaren Ahnen betrachte. Seine Helden, trotz ihrer veralteten Probleme und sozialen Fragen, sind auch heute noch lebendig — und wie sehr sie leben! Auch der Ibsensche Held ist kein geschlossenes Ganzes, vielmehr knetet er jede Minute sein Ich zu neuer Form — beginnend mit der phantastischen Lebenslüge der „Wildente“, bis hin zum selbsterschaffenen Turm des Baumeisters Solness.

Bis jetzt gab es nur einen einzigen Menschen, der mich ganz verstanden hat: Greta Garbo, die größte lebende Schauspielerin. Sie spielte in einem meiner Filme die Hauptrolle — eine Frau, die das Leben einer änderen leben will. Sie war unvergeßlich großartig. Ich war glücklich, als ich sie sah...

War ich es wirklich? Vielleicht bloß in pdrandeleskem Sinne. Denn was in einem Augenblick das Glück bedeutet — kann im nächsten schon tiefstes Unglück sein.

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