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Gesunde Häuser für kranke Kinder

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„Wie glücklich könnte man hier leben!“ rief J. A. Schultes aus, als er im Sturmjahr 1809 auf seinen berühmten „Reisen durch Oesterreich“ am Ufer des Traunsees einen besonders lieblich gelegenen Ort kennenlernte. 150 Jahre später wurde sein Wunsch für junge Menschen ohne Heim auf unerwartete Weise Wirklichkeit.

Einige Minuten hinter der Ortschaft A11-m ü n s t e r weist uns eine große Tafel den Weg zum Kinderdorf. Bunte Häuser lugen durch die Lücken zwischen den herbstlich kahlen Bäumen, die ein kleines Hochplateau schützend umgeben. Sieben Häuser stehen hier nebeneinander, sie haben alle die gleiche Form, wodurch viel Geld erspart wurde, aber durch bunten Anstrich unterscheiden sie sich voneinander. Vier weitere Bauten gehen der Vollendung entgegen, andere sind geplant.

In jedem wohnt eine richtige Familie, bestehend aus. neun Kindern -und einer Mutter. Jeder Raum, jede Schnalle, jeder Griff in diesen Häusern ist so angeordnet, daß er das Leben erleichtert und es einer einzelnen Frau ermöglicht, mit neun Kleinen verschiedenster Altersstufen, die manchmal schon ganz schön groß sind, zurandezukommen. Freilich, die größeren helfen 4er Mutter, passen auf die kleineren auf, deckenden Tisch und machen jsich: nützliche Trotzdem muß jede junge Frau, die sich als Mutter in eines der Kinderdörfer meldet, eine gewaltige Portion Idealismus mitbringen. Sie muß ihr ganzes ferneres Leben in den Dienst der Kinderdorfidee stellen und auf alle Ansprüche verzichten, denn jeder Wechsel würde den Erziehungserfolg von Jahren gefährden. Sie soll ja mehr sein als eine Pflegerin: Mutter mit allen Freuden und Leiden, die diese Berufung mit sich bringt.

Altmünster liegt in nächster Nähe aller wichtigen Schulen. Nach Gmunden ist es nicht weit. Mit vierzehn Jahren verlassen die jungen Menschen das Kinderdorf. Die Erfahrungen, die man in Imst gemacht hat, zeigten, daß sie dem Leben ebenso gewachsen sind wie die Kinder, die aus einer richtigen, natürlichen Familie ins Leben hinaustreten. Die künstliche -Familie nach dem Muster der Kinderdörfer hat sich bewährt.

In Altmünster wurde der Versuch gemacht, die Kinderdorfidee durch ein neues Experiment zu bereichern. Man darf heute schon sagen, daß es gelungen ist. Man nähert sich den ersten Häusern des neuen, eben erst eröffneten Dorfes, und schon fällt einem auf: sie sind nicht nur im Inneren mit allen Errungenschaften moderner Wohnkultur ausgestattet. Sie bekennen sich auch äußerlich zu unserer Zeit. Es sind moderne Häuser.

Anders als in Imst. Dort macht gerade die Harmonie, mit der sie sich nicht nur an die Natur, sondern auch an die Tirolerhäuser in der Umgebung anpassen, den besonderen Reiz des größten Kinderdorfes^ aus. Dort werden richtige Tiroler heranwachsen, Menschen, die immer gern an ihre Heimat denken und die immer wieder zu ihrer Mutter (ohne Anführungszeichen!) zurückkehren werden, denn die Heimmutter ist ihre Mutter, und Imst ist ihre Heimat, ob sie nun aus Tirol stammen oder aus Kärnten, aus dem Salzburgischen oder gar aus Wien. Imst ist heute nicht nur als Kinderdorf, sondern nicht zuletzt auch durch den anmutigen Stil seiner Häuser weit über Oesterreichs Grenzen hinaus berühmt.

Es wäre aber ein Fehler, alle Kinderdörfer in der Bauweise an die Häuser der Umgebung anzupassen. Wo nicht eine so klare, seit Jahrhunderten festverwurzelte Bauweise bodenständig ist wie in Tirol, käme dabei nur eine verwaschene Nicht-Fisch-nicht-Fleisch-Architektur heraus. Und damit sind wir bekanntlich schon überreich gesegnet. Mag sein, daß manche Leute das Kinderdorf in Altmünster zu modern finden. Das Ungewohnte begegnet überall Widerständen. Den Menschen, die hier heranwachsen, wird man modernen Geist nicht erst mühsam eintrichtern müssen. Er wird ihnen, durch die Umgebung von klein auf gewohnt, selbstverständlich sein.

Das Kinderdorf Altmünster paßt, obwohl modern, ausgezeichnet in die Landschaft wie jeder klare, schöne, mit Rücksicht auf die Landschaft entworfene Bau. Es liegt (wie alle Kinderdörfer) auf einem leicht geneigten Grund bei Altmünster. In den sauberen, praktischen, liebevoll eingerichteten Aufenthaltsräumen leben die Kinder im engsten Kontakt mit der Natur, von den Spielbänken aus, die hinter den großen, breiten Fenstern angebracht sind, können sie von klein auf alle Veränderungen in der Natur vom ersten Frühlingsgrün bis zum letzten Herbstrot beobachten. Was gerade das für ein krankes Kind bedeutet, und alle Kinder, die ins Kinderdorf kommen, sind seelisch mehr oder weniger krank, wird man erst voll ermessen können, wenn sie einmal groß sind und wenn sich liebevolle Betreuung, gesunde Umgebung und eigener Wille gemeinsam mit den gesunden gegen die kranken Veranlagungen und gegen frühe Schädigungen durch ein tristes Milieu durchgesetzt haben.

Schon in absehbarer Zeit soll, nach Imst, Lienz und Altmünster, auch bei Wien ein Kinderdorf entstehen. Der Grund ist schon erworben. Wenn der in Altmünster eingeschlagene Weg mutig weiterbeschritten wird und wenn man alle neueren Erfahrungen berücksichtigt, damit das Wiener Kinderdorf noch schöner und vollkommener wird, dann darf man hoffen, daß hier ein neues Vorbild für die Kinderdörfer in anderen Ländern entsteht. ....

Die Kinderdorfidee ist ja schon, ausstrahlend von Imst, auch in anderen Ländern heimisch geworden. In Deutschland, in Frankreich, in Südtirol (wo sie in der Erhaltung junger Tiroler für ihr Volkstum eine zusätzliche Aufgabe erfüllt) bestehen oder entstehen zur Zeit die ersten Dörfer.

Hermann Gmeiner, der Gründer und Schutzgeist der Kinderdörfer, hat erkannt, was Kinder am allerwichtigsten brauchen: eine Familie. Sie ist die einzig richtige Umgebung für den heranwachsenden Menschen. Sie ist die feste Zuflucht, von der aus er in immer größeren Kreisen die rauhe Außenwelt entdeckt und erobert, sie umgibt ihn mit jener Schutzschicht, die ihn gegen alle üblen Einflüsse wappnet. Wehe dem, dem sie seine Familie nicht mitgegeben hat.

Kinder können keine Forderungen erheben, sie können nicht streiken, sie haben keine Vertretung im Parlament. Sie können nicht verlangen, was sie brauchen, weil sie es selbst nicht wissen. Deshalb müssen Erwachsene für sie durchsetzen, was für die nächsten Generationen lebenswichtig ist: gesunde Häuser für kranke Kinder, damit kranke Kinder zu gesunden Erwachsenen heranwachsen.

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