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Getto in den Dolomiten?

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„Südtirol ist heute von einem Prozeß der Umwandlung erfaßt, der tief in das soziale Gefüge der Volksgruppe eingreift“, schrieb Robert von Fio-reschy, Assessor für Wirtschaftsfragen der Bozener Landesregierung und prominenter Mitunterzeichner des „Auf-bau“-Manifests in der Südtjrol-Sonder-beilage von „Christ und Welt“ (16. März 1962). Der Kern seiner notwendigerweise auf die heutige Lage beschränkten Analyse:

• Mit dem Bauerntum steht und fällt „das deutsche Volkstum in Südtirol“; jede Lösung kann also „nicht im radikalen Abbau des Bauerntums liegen, sondern in seiner Erhaltung“.

• Die Südtiroler Minderheit hat einen jährlichen Substanzverlust von rund 2000 Menschen, die abwandern, zu ertragen.

• „Wir müssen in den nächsten fünf Jahren etwa 10.000 neue Arbeitsplätze schaffen.“

Fioreschys Analyse ist indes nur die halbe Wahrheit. In Wirklichkeit holt die Südtiroler Minderheit — nicht Südtirol als Ganzes gesehen — heute eine Entwicklung nach, die bei anderen gleichartigen Völkern oder Volksteilen (etwa in Nordtirol, in der Schweiz, in Bayern) spätestens seit den ersten dreißiger Jahren ständig und regelmäßig im Gang ist. Es geht dabei um die wirtschaftliche Transfusion der in der Landwirtschaft überflüssig gewordenen „nutzlosen Arme“ in die Industrie; eine Entwicklung, die nicht unbedingt Verstädterung bedeuten muß.

Vierzig verlorene Jahre

Die Südtiroler Minderheit hat auf sozialem und kulturellem Gebiet wenigstens vierzig Jahre verloren; sie liegt um wenigstens eine Generation hinter allen anderen Nachbarn zurück. Die Ursache dieses Steckenbleibens in der Vergangenheit wird jedermann klar, der die Bevölkerungsstatistiken auf ihre soziale Aussage hin untersucht. Die deutsch- und ladintsch-sprachige Tiroler Minderheit ging nach dem Anschluß an Italien von 235.000 Einheiten auf 223.0ÖO zurück; Nettoverlust: 12.000 Menschen.

Bis 1939 hatte die Minderheit ihren Bestand wieder auf 256.000 Einheiten aufgestockt; die Abwanderung infolge der Option und die Kriegsverluste bewirkten, daß bei der Volkszählung 1951 nur 227.000 Südtiroler und La-diner vorhanden waren. Der Nettoverlust von 29.000 Einheiten lag enorm hoch, war aber bereits durch den zwischen^ 1945 und 1950 eingetretenen Zuwachs korrigiert; in Wirklichkeit hatte^ die Minderheit wenigstens 5000 im Krieg Gefallene und an die 30.000 für immer Abgewanderte verloren: 35.000 Menschen.

In einem Zeitraum, in dem die Zahl der Italiener im Lande von 20.000 (1921) auf 115.000 (1951) gestiegen ist, hat die Minderheit rund 47.000 Menschen verloren: das ist mehr als die Einwohnerschaft einer Industriestadt wie St. Pölten. In keiner Südtiroler Stadt — nicht einmal in dem bald 90.000 Einwohner zählenden Bozen — hat die Minderheit auch nur die Hälfte dieser Verlustzahlen an effektiven Einwohnern.

Ein unterentwickeltes Volk

Indessen ist die Zahl der seit 1953 aus Südtirol zur Arbeitssuche ins Ausland abgewanderten Angehörigen der Minderheit von 4000 im Jahre 1959 auf 7000 gestiegen — und es ist kein Ende dieses Exodus abzusehen. Es zeichnet sich also für die Südtiroler ein drittes Mal die Gefahr ab, jenen natürlichen Volkszuwachs zu verlieren, mit dem allein von einer Politik der „Erhaltung des Volkstums“ zu jener Politik übergegangen werden könnte, die — laut Gruber-De-Gasperi-Abkom-men — „die kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung“ der Minderheit zum Ziel haben muß.

Das Bemerkenswerte an der Lage der- Minderheit ist jedoch, daß die Zahl der in der Landwirtschaft Tätigen (und in der Landwirtschaft Lebenden) nicht eine fallende, sondern eine steigende Tendenz aufweist: 1959 waren es noch rund 68 Prozent (von denen freilich nur 53 Prozent effektiv in der Landwirtschaft voll beschäftigt waren), 1961 lagen die Zahlen schon zwischen 73 und 74 Prozent. Dem-cenenüber bettlet der Anteil der land-

wirtschaftlichen Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland 13, in der Schweiz 16, in Österreich 23 und in Italien 32 Prozent.

Nach dem Urteil von FAO-Experten ist jedes Land (oder jedes Volk), in dem fünfzig oder mehr Prozent in und von der Landwirtschaft leben, als unterentwickelt zu betrachten.

Nicht die Wohlstandskulisse, die Bozen, Meran und Brixen vortäuschen, ist die Südtiroler Realität, sondern das übervölkerte Bergbauerntal, das gleichwohl mit durchschnittlich fünf Kindern pro Familie bis heute dafür gesorgt hat, daß die Minderheit die enormen Substanzverluste wettmachen konnte.

Im Gefälle, in der Differenz zwischen den beiden Begriffen „Erhaltung der Volksgruppe“ und „kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung“ der Minderheit liegt auch der Kern des Süd tiroler Problems: „Erhaltung“ ist defensiv, passiv, abwehrend; „Entwicklung“ ist aktiv und optimistisch; es bedeutet Fortschritt und Entfaltung. Die „defensive Operation“ ist der Minderheit gelungen; sie hat indes bis heute nicht die Möglichkeit gefunden, aktiv zu werden, zur Sicherung der „Entwicklung“ überzugehen, aus dem Bauernstand das Bür-

gertum zu ergänzen und eine breite Arbeiterklasse zu schaffen.

Die meiste Schuld daran trägt Italien, das der Minderheit die Selbstverwaltung vorenthält und ihr vor allem auf jenen Gebieten die italienische Trentiner Majorität als Wachhund vor die Nase gesetzt hat, auf denen jede soziale und wirtschaftliche Entwicklung beginnen müßte: auf den Sektoren der Industrie und der Landwirtschaft. Außerdem behält der Staat die Schlüsselposition der Arbeitsvermittlung in der Hand.

Einige Schuld mag jedoch auch auf das Konto der Minderheit gehen. Diese, seit 1922 vom aggressiven faschistischen Nationalismus in ein Getto gedrängt, blieb ohne Kommunikation mit den großen europäischen Entwicklungs- und Ideenströmen der letzten Jahrzehnte; sie hielt an den gedanklichen Kategorien von 1920 fest; sie sieht ihren Kampf heute noch als frontalen Volkstumskampf an. Notwendigerweise wird in diesem Getto jedes Problem zu einer „nationalen“ Auseinandersetzung zwischen Minderheit und Staatsvolk: der Kampf um einen Arbeitsplatz ist solcherart ein „nationaler“ Kampf zwischen dem einheimischen Südtiroler und dem zugewanderten Italiener, gleichgültig ob es sich bei dem zu besetzenden Posten um eine Briefträgerstelle in einer Berggemeinde, um einen Hilfsarbeiterjob bei einer Straßenbaufirma oder um den gemütlicheren Platz in der Empfangsloge eines Beamtenpalastes in Bozen handelt.

Die völkische Gettoterminologie hat den Südtirolern — auch von allerhöchster italienischer Seite — den Vorwurf eingetragen, sie wären „Rassefanatiker“, sie wollten einen „Naturschutzpark“ (Scelba und Segni haben sich solcherart vernehmen lassen). Antonio Gambino korrigierte dies im „Espresso“ (Rom): „Die Dinge so zu sehen, bedeutet, daß man die Tatsache völlig außer acht läßt, daß der .Rassismus' — bis auf ganz wenige Ausnahmen — nicht die Krankheit ist, sondern das Symptom eines tiefen sozialen Unbehagens.“ Und der sozialistische Trientiner Abgeordnete Re-nato Ballardini erklärte auf der von der Zeitschrift „II Mulino“ (Bologna) -sie wird von Angehörigen des linken Flügels der Democrazia Cristiana herausgegeben — in Bozen veranstalteten Südtirolenquete (4. bis 5. November 1961): „Wir sehen uns einer defensiven .Apartheid' der Südtiroler gegenüber. Bevor es jedoch zu dieser politischen und kulturellen .Apartheid' von heute gekommen ist, hat es — als am meisten negative und am schwersten wiegende Folge der faschistischen Entnationalisierungspolitik — die ökonomische .Apartheid' gegeben ... Sie hat zur Folge gehabt, daß die deutschsprachige Bevölkerung in eine wirtschaftlich rückständige, vielfach präkapitalistische Tätigkeit zurückgedrängt worden ist. Zweifellos rührt die politische und kulturelle Verschlossenheit größtenteils daher.“

Die Angst vor dem „Todesmarsch“ wird von zwei so verschiedenartigen Publizisten wie dem Jesuiten P. Mario Castelli („Aggiornamenti Sociali“, Mailand) und dem linksstehenden Radikalen Leopoldo Piccardi („Alto Adige 1961“ im „Mondo“) als Hauptmotiv allen Handelns der Minderheit identifiziert. „Das beherrschende psychologische Motiv“, schreibt Piccardi, „das uns in den Kern des Problems führt, ist die Angst vor dem Untergang — die panische Angst, nicht zu überleben, überschwemmt zu werden und dieses Zentrum des Lebens und der Kultur zerstört zu sehen.“

Und Castelli: „Im Herzen der Südtiroler verbleibt ein noch stärkeres Motiv des Mißtrauens gegenüber dem italienischen Staat: die Zuwanderung nach Südtirol ... Ein großer Teil des Verhaltens der Minderheit erklärt sich aus dieser Angst.“

Es liegt auf der Hand, daß diese psychologische Landschaft — die durch die oben skizzierte soziale Entwicklung jeden Tag aufs neue bestätigt wird — den Optimismus, der die Voraussetzung aller großen Reformen ist nicht aufkommen läßt. Man kämpft dai um Briefträger- und Straßenkehrer-'

posten, um ein Dutzend staatlich subventionierter Neubauwohnungen, um das Recht, am Fahrkartenschalter nicht nur deutsch reden zu dürfen, sondern auch deutsch verstanden zu werden — und versäumt indessen zum drittenmal jene wirtschaftliche und soziale Reform, die den Übergang von der „Erhaltung“ zur „Entwicklung“, von der Passivität zur Aktivität bringen müßte. „Der Aufbau“ and was dahinter steht „Die Südtiroler Wirtschaft ist gegenüber dem Wirtschaftsaufschwung im übrigen Europa zurückgeblieben..., vor allem, weil es an einer aufbauenden Wirtschafts- und Sozialpolitik fehlte. Die zunehmende Abwanderung heimischer Arbeitskräfte in besser entwickelte und daher lohngünstigere Gebiete ist ein beredtes Zeugnis dafür, daß tiefgreifende strukturelle Änderungen auch bei uns getroffen werden müssen!“ hieß es im sehr polemischen (und dadurch schon entwerteten) Manifest, mit dem im September 1961 die „Gruppe Aufbau“ als Fraktion innerhalb der Südtiroler Volkspartei auf den Plan trat. Wer die inneren Vorgänge in der Minderheit nur oberflächlich kannte, mochte hierin eine große Neuigkeit erblicken. Doch hatte

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