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Gewissenserforschung des Wirtsvolks

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DIE STERNE SIND ZEUGEN. Der Untergang der polnischen Juden. Von Bernard Goldstein, aus dem Amerikanischen von Paul Stamford. dtv-Taschenbuchausgabe. S9 Seiten. Preis 19.80 S. — WIR HABEN ES GESEHEN. Augenicueenberichte Uber Terror und Judenverfolgung im Dritten Reich. Herausgegeben von Gerhard Schoenberner. Rütten Loenlng, Hamburg, Paperback-Ausgabe, 430 Seiten. Preis 94.70 S. — DIE KREUZELSCHREIBER. Ante ohne Gewissen — Euthanasie im Dritten Reich. _ Von Bert

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DIE STERNE SIND ZEUGEN. Der Untergang der polnischen Juden. Von Bernard Goldstein, aus dem Amerikanischen von Paul Stamford. dtv-Taschenbuchausgabe. S9 Seiten. Preis 19.80 S. — WIR HABEN ES GESEHEN. Augenicueenberichte Uber Terror und Judenverfolgung im Dritten Reich. Herausgegeben von Gerhard Schoenberner. Rütten Loenlng, Hamburg, Paperback-Ausgabe, 430 Seiten. Preis 94.70 S. — DIE KREUZELSCHREIBER. Ante ohne Gewissen — Euthanasie im Dritten Reich. _ Von Bert

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Honolka RUtten & Loenlng, Hamburg, Taschenbuch aus der Reihe“ „Das aktuelle Thema“. 158 Selten. — DAS SIEBTE KREUZ. Roman von Anna S e g h e r s. Hermann-Luchterhand-Verlag. 4S6 Seiten. Preis 14.80 DM. — NACKT UNTER WOLFEN. Roman von Bruno A p 111. rororo-Taschenbuchausgabe. 488 Seiten. Preis 35.50 S.

Neue Details vom Judenmord in Polen, weitere, oft vernachlässigte politische Aspekte, neue Tragödien — so mancher, der das Buch „Die Sterne sind Zeugen“ von Bernard Goldstein in der Buchhandlung in die Hand bekommt, mag seufzen: Genug, genug davon! Wir wissen es ja schon! Wir sind zur Genüge erschüttert worden! Laßt uns endlich In Ruhe!

Doch dann liest man das Vorwort zur Originalausgabe des ursprünglich von der Europäischen Verlagsanstalt in Frankfurt herausgebrachten Werkes und fährt zusammen. Der anonyme Vorwortverfasser schreibt über die Stellung der Ostjuden unter ihren „Wirtsvölkern“. Wirtsvölker! In der Einleitung eines solchen Buches — dieses aus der Naturgeschichte der Schmarotzer in die Nazd-Ideologie übernommene Wort! Eine bittere Geschichte. Wo das Vokabular der Massenmörder noch in Gebrauch ist, kann wohl auch ihr Denken nicht allzu ferne sein. Das „Wirtsvolk“ weiß also wohl noch immer nicht genug.

Vielleicht beurteilt es so manchen unter dem Motto „Laßt es genug ein...“ in den letzten Monaten erfolgten Freispruch und so manches milde Urteil doch etwas anders, wenn es zum Beispiel den Erlebnisbericht „Im Massengrab“ von Zalman Teichmann gelesen hat. Wer sich mit der Materie beschäftigt hat, glaubt, diese Schilderung in ihrer ganzen Entsetzlichkeit schon hundertmal gehört zu haben. Einmal würde genügen? Aber ja. Doch wie viele Deutsche (und Österreicher!) haben sich diesem Grauen und seinen Konsequenzen wenigstens einmal wirklich gestellt? Der Bericht „Im Massengrab“ ist nur ein Kapitel aus dem Buch „Wir haben es gesehen“, es enthält ausschließlich Augenzeugenberichte, aber nicht ausschließlich von Juden.

Höchst aktuell ist die Lektüre des Taschenbuches „Die Kreuzelschreiber“ von Honolka, wenn man bedenkt, wie schmählich der große Euthanasieprozeß infolge von Flucht,Selbstmord und Krankheit der prominenten Angeklagten vor kurzem endgültig versandet ist. Was die Euthanasie, die Vernichtung des „lebensunwerten Lebens“, wirklich bedeutet hat, zeigt Honolka am besten mit Hilfe der Zitate aus Briefen, Berichten und Aussagen der Mitwirkenden am großen Massenmord. Da ist von „ausgesprochener Ulkstimmung“ die Rede, die Arbeit ist „sehr, sehr interessant“, sie „flutscht nur so“, in zwei Tagen „erledigt“ einer der SS-Spezialisten für psychiatrische Schnelldiagnose nicht weniger als 320 Fälle.

Den Leser dieses Buches befällt das Unbehagen nicht bei der Lektüre des Vorwortes, sondern erst dann, wenn er es endgültig zuklappt und sich dem Text auf der Rückseite widmet: „Erst heute, zwei Jahrzehnte darnach, wird uns klar, welche Verbrechen im Dritten Reich im Rahmen jener Aktion begangen wurden, für die der Begriff .Euthanasie' herhalten mußte ...“

Die dokumentarische Literatur zum Thema ist äußerst umfangreich, beklagen kann man sich höchstens darüber, daß sie vielleicht noch immer zuwenig gelesen wird. Aber auch die Zahl der dichterischen Beiträge ist nicht gering. Nur ganz wenige erreichen allerdings den formalen und ethischen Rang des ersten deutschen KZ-Romans, der kurz vor dem Krieg erschien: „Das siebte Kreuz“ von .Anna Seghers. Die westdeutsche Neuauflage ist eine begrüßenswerte Tat des Hauses Luchterhand. Denn die deutsche Kommunistin, die mit diesem Buch weltberühmt wurde, ergreift darin die Partei der anständigen, unschuldigen Deutschen in einer Zeit, in der von den Deutschen auf der ganzen Welt kaum anders als mit Abscheu gesprochen wurde. Sie zeigt, daß es in diesem Deutschland noch immer Menschen gibt, die dem entsprungenen KZ-Häftling helfen. Und daß nicht alle, die ihm ihre Unterstützung verweigern, Unmenschen sind. Oft haben sie nur Angst.

Welcher Abstand zwischen diesem Buch und dem anderen großen KZ-Roman eines deutschen Kommunisten: „Nackt unter Wölfen“ von Bruno Apitz. Denn dies ist nicht der Roman, in dem sich an der Gefahr, die ein in das Lager geschmuggeltes kleines Kind für die Häftlinge bedeutet, die Geister scheiden, sondern es ist der Roman der kommunistischen Disziplin im KZ, geschrieben in einem kommunistischen Land, erstmals dort erschienen 1958, folglich kam der Autor ganz ohne kommunistische Heldenromantik eben doch nicht aus. Der falsche Zungenschlag ist nicht zu überhören.

Der Gewissenserforschung des Wirtsvolks dient trotzdem auch dieses Buch, wenn auch keineswegs ganz in dem vom Verfasser angestrebten Sinn.

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