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John Irvings Hauptfigur in "Bis ich dich finde" hat einiges zu bewältigen.

Nicht wenn Jack dabei ist." Das Gespräch hat wieder einmal einen Knackpunkt erreicht, an dem es interessant werden könnte. "Aber dafür bist du noch zu jung." Jacks Kindheit ist bestimmt von der Suche nach seinem Vater und von Geheimnissen. Hippie-Mutter Alice reist ihrer verlorenen Liebe durch halb Europa nach, schleppt das vierjährige Kind dabei durch Kirchen, Rotlichtviertel und Tätowierungsstudios und stellt umfassende Recherchen an, glaubt sich der Junge zu erinnern und beginnt bereits in zartem Alter, in verschiedene Rollen zu schlüpfen. Ganz er selbst ist er nur, wenn er die Hand seiner Mutter halten möchte.

Zwiespältig aufgenommen

John Irvings jüngster Roman "Bis ich dich finde" wurde von der internationalen Kritik zwiespältig aufgenommen, die "Washington Post" und "Publishers Weekly" werfen ihm Faulheit und Mangel an guten Dialogen vor, die "New York Times" hingegen lobt den Roman als Irvings "Opus Maximum" und der Autor selbst räumt ein, "Bis ich dich finde" sei sein bisher autobiografischster Roman. Mag sein, dass Irving deshalb manchmal wenig Distanz zu seinem Protagonisten hält.

Jack und Irving versuchen gemeinsam, die Ordnung der Dinge in chronologischem Erzählen zu finden, wie es Jacks kalifornische Therapeutin verlangt, indem sie Jack fünf Jahre lang sein Leben erzählen lässt, von den jüngsten Erinnerungsfetzen der Kindheit bis nahe an die Gegenwart - und immer alles schön der Reihe nach, therapeutischer Sadismus.

Genau hier schwächelt der Text und vermittelt dem Leser das Gefühl, Irving habe seinen Roman nun selbst nicht ganz im Griff und die Erzähltherapie gelte nicht nur der Hauptfigur, sondern auch ihrem Schöpfer.

Auf dünnem Eis

Aber darin liegt auch eine Stärke des Romans: Irving hatte den Mut, sich auf dünnem Eis zu bewegen-ebenso wie seine Hauptfigur: Jack fällt als kleiner Junge in einen zugefrorenen Burggraben, aus dessen Eiswasser ihn der kleinste Soldat von allen wieder befreit und dafür eine Gratistätowierung seiner Mutter erhält - an einer Stelle, die er nie vergessen wird.

Jacks Erinnerungen haben doppelten Boden: Wahrheit und Konstruktion, als Erwachsener muss er feststellen, dass seine Mutter die Qualität und Interpretation seiner Erinnerung absichtlich manipuliert hat. Hinter ihrem schon damals rätselhaften Verhalten verbirgt sich eine ganz andere Geschichte, die der mittlerweile berühmte und erfolgreiche Schauspieler Jack Burns nach dem Tod der Mutter auf einer neuerlichen Europareise für sich entdeckt.

Nebst einer Reihe von höchst unliebsamen bzw. schockierenden Überraschungen, so etwa jener, der kleinste Soldat von allen sei keineswegs ein Soldat gewesen und die Gratistätowierung nichts anderes als die verfrühte Initiation in die Welt der Liebe oder - Kindesmissbrauch.

Rückblickend anders

So ist rückblickend so vieles anders als es damals schien, die ganze Familiengeschichte nebst der Problematik gegenseitiger Schuldzuweisungen muss neu überdacht, erlebt, geschrieben werden. "Bis ich dich finde" - die Inschrift einer Tätowierung der Mutter erhält eine neue Bedeutung. Und der Vater wird neu bedeutsam für Jack.

Allgegenwärtig ist die Metapher des fürs Leben gezeichneten Seins, sichtbar und oberflächlich durch eine Tätowierung oder unsichtbar und viel tiefer gehend durch einprägsame und traumatische Erlebnisse. Es sind die Spuren, die das Leben hinterlässt.

Was Alice einem fremden Jungen antat, ereilt von anderer Seite ihren eigenen, auch er wird missbraucht, ein Trauma, das der Protagonist mit seinem Schöpfer teilt. Und Irvings Mutter hat dem Autor übrigens nie verraten, wer sein Vater war.

Ein zentrales Thema des Buches ist Sex in allen Lebenslagen. Als ausnehmend hübscher Junge und schöner Mann (so schön, dass er vor allem für seine Frauen-und Transvestitenrollen berühmt wurde) hat Jack jahrzehntelang ein äußerst reichhaltiges Sexualleben, das viel zu früh beginnt, sich gerne an älteren Frauen orientiert und zeitweise zu viel Raum in seinem Leben einnimmt. Daneben hat nichts mehr Platz, vor allem keine gesunde Beziehung, weder Freundschaft noch Liebe. Nur das eigenartige Verhältnis zu seiner "Stiefschwester" - die Mütter der beiden sind eine langjährige lesbische Beziehung eingegangen, und Tausende Kilometer weiter weg in Hollywood wohnen nun auch die Kinder zusammen.

Jack schlüpft in immer wieder andere Rollen, die Schauspielerei als Flucht vor der Realität im Allgemeinen und vor sich selbst im Besonderen ist neben dem Gezeichnetsein das wichtigste Bild im Roman.

Kuriositätenkabinett

Man mag John Irving Schludrigkeit vorwerfen und Wiederholungen (nicht alle haben das Zeug zum geflügelten Wort oder Insider-Schmäh), Überarbeitung und Straffung hätte dem Roman sicherlich gut getan und die "Rohfassung" zu einem wirklichen Opus maximum gemacht. Aber auch so, wie es ist, ist das Buch spannend über die meisten seiner weit über 1.000 Seiten und hält, was der Name John Irving verspricht: es ersteht ein Kuriositätenkabinett schrulliger Zeitgenossen, die so geschildert sind, dass man sie gern durchs Leben begleitet.

Und dieses Leben schrammt immer ganz knapp an der Realität entlang.

Bis ich dich finde

Roman von John Irving

Aus d. Amerikan. v. Dirk van Gunsteren u. Nikolaus Stingl

Diogenes Verlag, Zürich 2006

1139 Seiten, geb., e 25,60

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