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Gibt es noch einen Ausweg?

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Zu Jahresbeginn 1994 Heß die Nachricht von der Erhebung der „Indios“ in Chiapas, im Süden Mexikos, die Welt aufhorchen. Viele Europäer waren überrascht, da sie sich von der These beruhigen lassen, daß ja in Lateinamerika die Demokratisierung voranschreite. Symbolträchtig ist, daß die Erhebung in Chiapas stattfand, Boden der Jahrtausende alten Maya-Hochkultur. Dort war gegen Ende der ersten Generation der spanischen Conquista Bartolome de las Casas Bischof, der einstige Großgrundbesitzer, der – bekehrt und zum „Verteidiger der Indios“ geworden ~ gemeinsam mit Francisco de Vitoria die Grundlage für die gleiche Menschenwürde der eingeborenen Völker und das heute noch gültige Völkerrecht gelegt hat.

Bartolome de las Casas hat in seiner „Historia de las Indias“ eine leidenschaftliche Anklage gegen die Greueltaten der Conquistadores erhoben. 500 Jahre später ist das Problem in seiner einstigen Diözese noch immer nicht gelöst. Freilich trägt es heute zum Teil andere Züge. Die Maya-Nachkommen sprechen heute vom NAFTA-Freihandelsab-kommen zwischen Mexiko, USA und Kanada, das den Campesinos (Kleinbauern, Taglöhnern) von Chiapas keine Chance läßt, da sie ungeschützt mit der liberalisierten Wirtschaft nicht konkurrieren können.

Und die Situation in Pedro Carbo, meiner Landpfarre in Ekuador? Unsere Campesinos fühlen sich nicht als Indigenas, sie sind Mischlinge. Sie sprechen nicht mehr ihre eingeborene Sprache, sie „haben ihr Gedächtnis verloren“. Seit zwei Jahren ist die Baumwollwirtschaft, drei Jahrzehnte Rückgrat unserer Landwirtschaft, zusammengebrochen.

Was ist passiert? In unserem Bezirk gab es keine Latifundien, nur Kleinbauern, Taglöhner, mittlere Betriebe. Heute können sie mit dem Weltmarktpreis nicht mehr konkur-

Herbert Leuthner,

Landpfarrer in Ekuador, 1993 Träger des Romero-

Preises der Katholischen Männerbewegung, befürchtet eine Katastrophe.

rieren. Fast alle sind verschuldet, müssen ihren Grand und Boden verkaufen. Große Gesellschaften, teils ausländische, kaufen unseren Boden (er gehört zu den frachtbarsten der Welt) zu Spottpreisen. Aufs neue entstehen Latifundien! Es ist nicht mehr der alte „feudale Adel“ (der in vielen Teilen Lateinamerikas noch existiert), es ist der neue „Geldadel".

„WILDER KAPITALISMUS"

Nur wenige finden Beschäftigung als Landarbeiter in den neuen Plantagen. Die müssen ja billig produzieren, um auf den Märkten des Nordens konkurrenzfähig zu sein (falls der nicht ohnehin die Einfuhrquoten kürzt und die Liberalisierang nur den „Armen“ predigt). So müssen viele Campesinos auf Wanderschaft gehen. Wohin? In die „suburbios“ von Guayaquil, unserer Großstadt, die aus allen Nähten platzt. Auch dort braucht die Industrie immer weniger Menschen. Wie lange werden sie in der „informellen Wirtschaft“ (etwa als Straßenverkäufer) noch unterkommen? Supermarktketten werden bald unsere zahllosen Greißler verschwinden lassen. Nicht nur die „suburbios“ der Großstädte wachsen wie Krebsgeschwüre, es wächst auch die Kriminalität in für Europäer unvorstellbaren Maßen. 1992 wurden aus dem Kreis meiner engsten pfarrlichen Mitarbeiter secns Familienangehörige ermordet.

Glauben Sie nicht, daß der „Menschenüberschuß“, der durch dieses Wirtschaftssystem entsteht, Sym-)tom der Uberbevölkerang ist. In ikuador leben auf der Fläche des ehemaligen Westdeutschland elf Milhonen Einwohner. Unsere Provinz, die fruchtbarste, könnte nach Schweizer Berechnungen 60 Millionen Menschen ernähren. Aber was nützt das in einer Welt, in der das Problem darin besteht, daß zu viel Nahrangsmittel produziert werden?

Allgemein weist Lateinamerika, trotz aller positiven Bemühungen, eine Schwäche der Rechtsstaatlichkeit und des sozialen Netzes auf, bedingt durch Korraption und Macht des Geldes. Die katholische Soziallehre gibt der Marktwirtschaft Raum, aber in Verbindung mit dem rechtsstaatlichen, sozialen und partnerschaftlichen Netz. Das Wort „soziale Marktwirtschaft“ habe ich in Ekuador noch nie gelesen, nur „mer-cado libre“. Aber ohne dieses Netz wird Marktwirtschaft zum „Wilden Kapitalismus".

Daher sagt die Sozialenzyklika. Centesimus Annus (33) mit Recht, daß das Problem des Südens häufig von einem primitiven Kapitalismus gezeichnet ist, typisch für die erste Hälfte des vorigen Jahrhunderts! Lateinamerikas Bischöfe greifen mit Recht die herrschende neoliberale Politik an, die das ohnehin schwache soziale Netz in wichtigen Bereichen ehminiert (DSD = Dokument von Santo Domingo 179). Gerade in jüngster Zeit (etwa seit Zusammenbrach des anderen unmenschlichen Systems, des Sowjetkommunismus) geht aufs neue die Tendenz verstärkt in die verkehrte Richtung.

Gibt es einen Ausweg? Ist es der evangelikale Fundamentalismus? Die Bischofskonferenz von Medellin hat die Weichen für die „vorrangige Option für die Armen“ gestellt, Antwort war die Offensive fundamentalistischer Sekten in ganz Lateinamerika. Man nimmt an, daß sie 2005 bereits die Oberhand im „katholischen Kontinent“ haben werden. Der Fundamentalismus ist kein Ausweg, sondern „Ausflucht": Im Kontinent, wo die Schere zwischen Arm und Reich immer mehr auseinandergeht, ist der Gedanke wie eine Droge: „Die Welt ist verloren, rette Deine Seele, Christus kommt bald.“

UNHEILVOLLE DUAUSMEN

Viel mehr Glauben fordert die katholische Position, die zwar auch weiß, daß das Reich Gottes erst im Jenseits zur Vollendung gelangt, die aber glaubt, daß es hier unsere Aufgabe ist, es in allen Rereichen menschhchen Lebens zum Wachsen zu bringen und die unheilvolle „Spaltung zwischen Glauben und Leben“ (DSD 24,44) zu überwinden.

Gibt es einen Ausweg? Was kann der Beitrag der katholischen Kirche sein? In unserem Vikariat sind wir überzeugt, daß dieser Weg in den Texten des Zweiten Vatikanums, in den Dokumenten von Medellin, Pu-ebla und Santo Domingo, sowie in den letzten Sozialenzykliken klar definiert ist. Was fehlt, ist die Umsetzung in operative Modelle. Solche gibt es in vielen einzelnen Versuchen „befreiender Pastoral“ oder „befreiender Theologie“. Aber sporadische Bemühungen genügen nicht; angesichts eines weltbedrohenden Problems müßte eine wahrhafte Bekehrang erfolgen, und zwar nicht nur persönlich oder in verstreuten Initiativen, auch „kirchlich“, wie DSD 178 fordert.

Weltweit müßten in den Diözesen gemeinsame, permanente Prozesse erfolgen, die im Lichte der Bibel und der genannten kirchlichen Dokumente die Lage studieren, die Ziele und Wege suchen, permanent auswerten und vom gemeinsamen Wollen zur gemeinsamen Aktion finden. Diese Prozesse müßten die unheilbringenden Duahsmen (Leib – Seele, Individualismus – Kollektivismus, Diesseits – Jenseits) überwinden, die auch im katholischen Bereich auf beiden Seiten (heute mehr im rechten, integralistischen Bereich) vorhanden sind. Von besonderer Bedeutung ist die Beteiligung aller Glieder der Kirche, besonders der Laien. Es geht ja vor allem um wirtschaftliche, rechtliche und politische Fragen. Unsere schwierig gewordene Welt braucht dazu erstklassige Ex-)erten. Ich glaube, viele Diözesen ^ateinamerikas könnten ein Vorbild für eiu-opäische Diözesen sein, wie in gemeinsamen, diözesanen Prozessen innerkirchliche Zwistigkeiten zu überwinden sind, um zum gemeinsamen Beten, Studieren und Arbeiten zu finden.

Aber die Zeit ist kurz. Clemencia ist ein Mädchen mit 17 Jahren aus einem unserer ärmsten Dörfer. Sie ist „Catequista“ in der Kinderpasto-ral ihrer Teilgemeinde. Sie kam unmittelbar nach Weihnachten ziu-Verantwortlichen unserer kleinen Genossenschaft, um ein paar ihrer Geflechte aus Palmstroh zu verkaufen. Es war kein Tag zur Annahme der Waren. Aber die Verantwortliche mußte ihr an diesem Tag die Waren abkaufen. Denn Clemencias Familie hatte im abgelaufenen Jahr nur auf einem kleinen Feld fünf quintal (1 qq = 100 Pfund) Reis geerntet. Vor mehreren Wochen schon mußten sie das letzte quintal verkaufen, da der Vater schwer krank war. Er ist gestorben. Jetzt bleiben nur noch die Strohgeflechte, um ein bißchen Reis kaufen zu können. Wie lange wird Clemencias Famihe noch bleiben körinen? Und was dann?

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