Glaube, Liebe, Hoffnung, Krieg

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Friedrich Christian Delius erzählt das "Bildnis der Mutter als junge Frau".

Wir schreiben das Jahr 1943. Eine hochschwangere junge Frau geht durch Rom, um an einem Kirchenkonzert teilzunehmen. Ihr Mann, im Krieg verwundet, hat sich hier erholt und sie zu sich geholt - bis er einem "Abstellungsbefehl" nach Tunis folgen musste. Die junge Frau ängstigt sich um ihren Mann und die Zukunft ihres Kindes. Die ewige Stadt ist ihr fremd, sie versteht nicht einmal die italienische Sprache. Allerdings darf sie bei deutschen Ordensschwestern leben, die gut für sie sorgen - ihr Mann ist evangelischer Pfarrer. Die katholische Prägung Roms trägt dazu bei, dass sich die Gefühle von Fremdheit, Verlorenheit und Faszination abwechseln.

"Bildnis der Mutter als junge Frau" ist eine "Erzählung", doch weist der Klappentext auf biografische Bezüge hin. Der Autor Friedrich Christian Delius wurde 1943 in Rom geboren, sein Vater war Pfarrer, die junge Frau könnte seine Mutter sein. Wieviel Delius von seiner eigenen Familiengeschichte in die Erzählung eingearbeitet hat, könnte aber nur ein Vergleich ergeben, für den noch das Material fehlt. Eine Aufgabe für künftige Literaturwissenschaftler also.

Delius ist nicht der einzige seiner Generation, der sich in jüngerer Zeit intensiv mit der durch das "Dritte Reich" geprägten eigenen Familiengeschichte auseinandersetzt. Uwe Timm, geb. 1940, hat dies 2003 mit großem Erfolg getan, sein Text "Am Beispiel meines Bruders" ist deutlicher autobiografisch markiert. Anders als Timm vermeidet Delius erkennbare implizite Wertungen. Das ist vielleicht ein Problem des Buchs und es ist umso erstaunlicher, wenn man weiß, wie Delius zu einem der bekanntesten deutschsprachigen Autoren werden konnte.

Mit "Unsere Siemens-Welt" wurde er 1972 über Nacht berühmt. Die nächsten Jahre musste er Prozesse nicht nur des Siemens-Konzerns, sondern auch des Kaufhauskönigs Helmut Horten durchstehen, den er in einem langen Gedicht als exemplarischen Kapitalisten gezeichnet hatte. Delius, der seine beiden Vornamen gern abkürzt und so schon signalisiert, dass ihm öfter der Schalk im Nacken sitzt, hat auch mit späteren Arbeiten viel Beachtung gefunden, etwa mit der 1991 veröffentlichten vereinigungskritischen Erzählung "Die Birnen von Ribbeck", frei nach Fontanes Ballade.

Hier wendet Delius ein Verfahren an, das auch im neuen Buch Verwendung findet. Zwischen erlebter Rede und innerem Monolog changierend, werden Gedanken und Bewusstseinsinhalte des Erzählers wiedergegeben. Delius lässt uns direkt an den Ängsten und Überlegungen seiner Titelheldin teilhaben. Eine weitere Besonderheit ist die Ein-Satz-Technik. Es gibt nur einen Punkt, und der steht am Ende, auf Seite 127. Bis dahin ist der Text durch Beistriche und durch Leerzeilen gegliedert.

Die Stärke der Erzählung ist das außerordentliche Einführungsvermögen, man glaubt sich in die Gefühlswelt einer jungen Frau vor über 60 Jahren hineinversetzt. Es entsteht der Eindruck, dass sich ein solcher Spaziergang in der beschriebenen Art und Weise zugetragen haben könnte; höchstens melden sich leise Zweifel, dass sich die unerfahrene 21-Jährige tatsächlich in der knappen Zeit so umfassend Gedanken über Glaube, Liebe, Hoffnung und Krieg gemacht haben kann.

Delius zeichnet die junge Frau als eine vom Nationalsozialismus Verführte, gleichwohl an diesem Zweifelnde. Im Bund Deutscher Mädel ist sie mit Propaganda durchtränkt worden, deren Versatzstücke ihr immer wieder in Erinnerung gerufen werden. An den Endsieg der Achsenmächte Deutschland-Italien glaubt sie weiterhin, auch wenn ihr Zweifel kommen. Doch wie sollte der geliebte Mann sonst vor einem Soldatentod bewahrt werden? Wenn sich der Krieg weiter hinzieht, muss vielleicht auch er noch an die Front. Und wäre der Endsieg nicht die einzige Möglichkeit, die Zeit bis zu seiner Rückkehr zu verkürzen? Solche Überlegungen sind durchaus glaubwürdig, sie werden in vielen Köpfen umgegangen sein. Doch in Teufels Küche kommt man, wenn man anfängt, von diesem einen Schicksal auf das große Ganze zu schließen.

Wenn alle so waren und dachten wie die junge Frau, ihr Vater und ihr Ehemann (von deren gottesfürchtiger, humanistischer Einstellung auch gegenüber jüdischen Mitbürgern häufig die Rede ist), wieso konnte es dann zu einem Zweiten Weltkrieg und zum Holocaust kommen? Ist es legitim, einen Ausschnitt zu präsentieren, der, wenn man ihn verallgemeinert, dazu dienen kann, einigen wenigen Nichtgenannten unausgesprochen die Schuld zu geben und die anderen verführten Deutschen als Opfer zu sehen? Oder ist es ein begrüßenswertes Zeichen deutscher Normalität, dass nun auch Bücher geschrieben werden können, die sich nicht daran abarbeiten, beim Thema Nationalsozialismus bestimmte Erwartungen zu erfüllen?

Kein Zweifel - Delius' Erzählung ist eine anrührende, glänzend geschriebene psychologische Fallstudie. Was von der Auseinandersetzung mit dem zeithistorischen Hintergrund zu halten ist, muss zunächst einmal jede Leserin und jeder Leser für sich entscheiden. Auch als Beitrag zu einem öffentlichen Diskurs über die Erinnerung an den Nationalsozialismus könnte die Erzählung eine wichtige Rolle spielen. Ein Diskurs, der das notwendige Andenken an die Opfer als Verantwortung für die Zukunft der Gesellschaft begreift.

Bildnis der Mutter als junge Frau

Eine Erzählung von Friedrich Christian Delius. Berlin, Rowohlt 2006

126 Seiten, geb., e 15,40

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