6636580-1957_19_05.jpg
Digital In Arbeit

Glocken ohne Klöppel

Werbung
Werbung
Werbung

GRÜN LAUFEN DIE SAATSTREIFEN links und rechts des Weges, sie drehen sich im Vorbeifahren wie ein Kreisel. In den Gärten blühen die Obstbäume, weiß und rosarot liegt ihr Flaum vor dem Dunkel der Wälder. Die Telegraphendrähte steigen auf und nieder, und Schwalben sitzen darin wie Noten auf Zeilen. Von der spätgotischen Kirche an der Talöffnung klingen, wenn der Wind es gut meint, die Glocken zur Messe. Eine Welt des Blühens, eine Welt der Zufriedenheit, der quellenden Kraft, der Heiterkeit und Sorgenferne …

Aber dann, eine Stunde später, im Pfarrgarten der dörflich anmutenden früheren Randgemeinde Wiens, ist das Leuchten der Landschaft wie hinweggewischt. Zwar summen in den Obstbäumen die Bienen einen vieltönigen Chor — aber mit schwerer, dunkler, ein wenig müder Stimme kommt die Sorge des Mannes über uns, der für elfhunderteinundsechzig Menschen Hirte sein soll — wie lange? Ja, wie lange? „Man wird immer weniger beweglich, man kommt täglich darauf, weniger getan zu haben, als man sich vorgenommen hat; man hofft, es morgen doppelt aufholen zu können, und sieht am Ende der Woche, wenn man auf der Kanzel steht, wieviel zu tun übriggeblieben ist. Ja, wenn ich wenigstens einmal ein paar Wochen ausspannen könnte — aber ich bekomme keine Vertretung — vielleicht wird’s heuer, im Spätsommer ..

IM SPÄTSOMMER — hoffentlich nicht einmal zu spät. Die Stimme des einsamen Mannes ist nur eine, die ihre tiefe Sorge nicht verhehlte; andere wieder schweigen. Allein in der Diözese Wien sind 296 Priester — das ist ein Drittel des Gesamtstandes — über 60 Jahre, die ihre Weihe vor dem Ende des ersten Weltkrieges erhalten haben. In den Landgebieten der Erzdiözese Wien — und dort waren wir zu Besuch — sind 386 Pfarren für 589.969 Katholiken (im Stadtgebiet Wien 197 Pfarren für 1,459.255 Katholiken): hier liegt ein Problem offen zutage. In den 166 Pfarren südlich der Donau gab es bei de ..,Zählung 1952, (dręi Pfarren sind unbesetzt) KS j Pitopent, die nur einen Priester •haben. Wenn wir aber zur Stadt Wien selbst übergehen — und wo wäre eine Seelsorge, wo Führung und Geleit der heranwachsenden Jugend dringlicher als in der Großstadt? —, dann begegnen uns noch ganz andere Zahlen, Zahlen, die leider keine toten Ziffern bedeuten, Zahlen, bei deren Lesung man die Mahnung des Wiener Erzbischofs, die in den Kirchen verlesen wurde, erst wirklich in ihrer fortwirkenden Gewalt begreift. In ganz Oesterreich entfallen 1439 Katholiken auf einen Seelsorgepriester, in der Erzdiözese Wien 2070, der Stadt Wien jedoch 3131’Katholiken auf einen Priester. Sieht man sich aber die Größe der einzelnen Pfarren näher an, werden sogar diese Zahlen überschritten. Da haben wir Wien, 10. Bezirk, St. Anton von Padua: 28.000 Katholiken — vier Priester. (Zum Vergleich: die zwei Pfarren St. Pölten, Dreifaltigkeitskirche, und Krems an der Donau zählen zusammen 26.475 Katholiken und haben neun Priester.) In der Pfarre St. Anton (nach der Darstellung des Internationalen Katholischen Instituts für kirchliche Sozialforschung, Bericht Nr. 23) „wohnen jetzt 26.424 Katholiken und 6588 Nichtkatholiken. Alle Einwohner sind in insgesamt 802 bewohnten Häusern mit schätzungsweise 10.000 Wohnungen untergebracht”. (Von der Qualität dieser Wohnungen spricht der Bericht nicht ausdrücklich, es mag aber genügen, daß wir bei 14 Besuchen zwölf ungenügende Wohnzustände festgestellt haben, neun davon sind eine Schande für die „Weltstadt Wien”.) Der zitierte Bericht fährt (Seite 10 und 11) fort: „Die Bevölkerung lebt in schlechten materiellen Verhältnissen, ist zu 73,9 Prozent marxistisch, und bloß vier Priester müssen dieses Gebiet betreuen. Regelmäßige Hausbesuche der Pfärrgeistlich’en, wie sie für die Seelsorge in einer so schwierigen Pfarre unerläßlich sind, können nicht stattfinden. Noch dazu sind die drei Kapläne je während 40 Wochenstunden an den Schulen tätig …” Eigentlich braucht man diesen Worten nichts hinzuzufügen. Aus einer Aufstellung dieses Berichtes wird die Tatsache abgeleitet, daß in den größeren Pfarren infolge der Unterbesetzung ein ausgesprochener Notstand herrscht. Ob die angegebene Zahl von weniger als 5000 Seelen die geistliche Lage „einigermaßen erträglich” macht, bleibe dahingestellt. Denn wir können ein städtisches Gebiet, wie das genannte in Favoriten oder etwa St. Leopold im 2. Bezirk, St. Rochus im 3. Bezirk und St. Laurentius im 14. Bezirk, nicht schlechtweg miteinander vergleichen; schon hier ist die soziologische Differenzierung erheblich. Sie ist noch ganz anders innerhalb des Gebietes nördlich der Donau, wo es unter 270 Pfarren bloß drei mit mehr als 5000 Einwohnern gibt, aber in Hollabrunn das Knabenseminar ist, das doch immerhin einen gewissen Kristallisationskern darstellt (abgesehen von der Bevölkerungszusammensetzung), und in Korneuburg (8109) und Stockerau-Stadt (11.780) bedeutende Industrieunternehmungen das gesellschaftliche Gesicht formen. Wer Sonderstudien treiben will, der mag sich für diese Orte die Berufsstatistik geben lassen und die für die einzelnen Parteien bei den Gemeinde- und Nationalratswahlen abgegebenen Stimmen. Man braucht sich, wenn im Lautsprecher nach einer Wahl die Ziffern einander folgen, dann nicht über gewisse depressive Erscheinungen zu wundern.

DEPRESSIV — niederschlagend sind Ziffern aber noch mehr, wenn man hinter ihnen nicht nur die Menschen sieht, sondern bedenkt, was diese Menschen nach des Tages Arbeit zu tun pflegen, wohin sie in der Freizeit ihre Schritte lenken, was ihre Steckenpferde sind; wenn man von Fall zu Fall, stichweise, untersucht, wie sich die Familienverhältnisse der Eltern derer darstellten, die heute selbst Eltern sind, und wessen Geistes diese und ihre Kinder sind. Eines ist Tatsache: bei den unterbesetzten (oder gar nicht besetzten) Pfarren fängt es an. Wo es nicht möglich ist, den wirklich noch tief und ehrlich Gläubigen in Augenblicken seelischer oder materieller Not ein Ratgeber zu sein, kann man auch gar nicht daran denken, etwa den Buben der Pfarre „Unbefleckte Empfängnis” in Neu-Simmering (20.000 Menschen r— drei Priester) einen wenn auch nur bescheidenen Spielplatz zu bauen, der die Buben von der gefährlichen Straße fernhält; kann noch weniger an einen Hort, an ein Tagesheim denken — die doch wieder betreuende Menschen brauchen — und darf schon gar nicht sich vermessen, eine Lehrlingsbücherei einzurichten. Wie auch die Menschen, die dort in der überwiegenden Zahl geistig und seelisch vereinsamen und verkümmern, aus ihrer Vereinzelung lösen, wenn der Priester selbst ein Einsamer ist? In der Stadt mag es noch angehen, es gibt Volkshochschulen, Büchereien, Konzerte und Theater, wir haben ein so hervorragendes Institut wie die Wiener Katholische Akademie. Aber was ist mit den Seelsorgern draußen auf dem Lande? Die Menschen sind — mit Wien verglichen — besser mit Priestern versorgt; woher aber sollen sie ihre geistig-seelischen Kräfte ziehen? Sie haben einmal Jahre hindurch studiert, die Worte der Großen des Geistes umtönten sie, leuchtende Vorbilder entflammten sie. Wir sehen den alten Mann draußen vor Wien wieder vor uns, wie er, im Garten sitzend und zu Boden blickend, erzählt, er habe seit 21 Jahren kein großes Symphoniekonzert gesehen und gehört. „Denn — was ist dieser Kasten?” (Der Pfarrer meinte den Rundfunkapparat.) „Das, was bei einem solchen Konzert von Mensch zu Mensch fließt, das kann er nimmermehr geben, und selbst wenn ich einen Fernsehapparat hätte, ich weiß, würde er versagen.” Das gilt für einen Musikliebhaber. Er hat für seine Bratsche keine Mitspieler zur Hausmusik. Wo sind die Zeiten hin, wo das Pfarrhaus eine Insel der Geistesbildung, ein Treffpunkt für Lehrer und Gemeindearzt war? In einem Kloster in Tirol trafen wir den Priester, der zu jedem Symphoniekonzert nach Innsbruck fuhr und, wenn der letzte Personenzug verpaßt war, ein paar Stunden heimwärts pilgerte; ein Mann, der sich die Konzertprogramme und Kritiken aufklebte; ein Mann, der selbst eine ganze Lade wertvoller Meistergeigen besaß; aber ein Mann zugleich, der in der Sommerzeit, wenn Urlauber in das Dorf kamen, nach Zuspruch lechzte, der sich erzählen ließ von Orchestern und Sängern, der dann selbst vorspielte … Ja, man rechne diese kleinen irdischen Freuden nicht allzu gering! Gerade sie wären imstande, manches erkaltete Gemüt zu erwärmen; Darum also, ehe man sich mid’Ged’artken trägt, ob vom flächen Lande etwa eine Unterstützung für die unterbesetzten Wiener Pfarreien kommen könnte (in Linz ist die Lage ähnlich), muß man sich Rechenschaft ablegen, was in bildnerischer Hinsicht für die Landpriesterschaft getan werden könnte.

BERUFUNG VON INNEN ODER VON AUSSEN? Nicht allein der Krieg, nicht bloß die Ereignisse von 1938 und darnach haben mit der Volkszahl auch jene der Seelsorger gedrückt. Seien wir ehrlich: Die Jugend von heute wäre sehr wohl (man werfe ihr nicht leichtfertig Materialismus vor) mitunter bereit, sich dem Priesterberuf zu widmen. Dem entgegen stehen jedoch die Ziffern der Bevölkerungszunahme, der Geburtenziffern. Es ist eben nicht dasselbe, wenn in einer Familie, die nur einen Sohn besitzt, dieser eine den Wunsch äußert, Priester zu werden, oder ob dies in einer Familie geschieht, wo — wie bei unseren Großeltern - oft fünf bis acht Kinder leben. Der Widerstand der klein gewordenen Familien, die in einem Sohn oder zwei Söhnen sozusagen eine zusätzliche Sozialversicherung für ihr Alter erblicken, darf nicht unterschätzt werden. Nicht der Sohn ist oft in solchen Fällen dagegen, sehr wohl aber die Eltern! Der Sohn ist bei einem religiösen Verband — was erfahren wir in einem solchen Falle? Die Großmutter lancierte das Schlagwort, die Mutter sprach es nach (der Vater kennt nur den Fußballplatz): „Geh doch einmal mit dem Vater zum Match! Vielleicht macht er es, daß du in der Jugendmannschaft spielen kannst!” Ein Appell der Kirche an die Jugend hätte nur einen Sinn, wenn ein Appell an die Eltern; nicht einmal, sondern jährlich mehrmals erginge. Eine Erziehung der Jugend zu religiösem Denken, zu religiösem Tatwollen ist nur sinnvoll, wenn eine Welle der Bereitwilligkeit auch die Eltern ergriffe. Das se’tzt freilich voraus, daß wir Katholiken nicht nach den Taufscheinen messen. Taufscheinchristen gibt es im Gebiet des einstigen Groß-Wien eindreiviertel Millionen, im Kirchendistrikt der Stadt rund zwei Millionen — aber von diesen zwei Millionen sind bloß 28 Prozent Paschänten und 23 Prozent Dominikanten. Aus einer solchen Haltung kann kein Priesternachwuchs erwartet werden. (Der österreichische Durchschnitt lautet: 42 Prozent Paschanten, 33 Prozent Dominikanten.) Immerhin, es gehen noch 42 Prozent der Taufscheinchristen zur Kommunion und 33 Prozent sonntags in die Messe. Hier ist der Hebel anzusetzen, wo ein ursprüngliches, unmittelbares Verhältnis zur Kirche, eine selbstverständliche Aktivität am regsten ist. Von der Apostolischen Administratur Innsbruck - Feldkirch, von der Administratur Burgenland dürfen wir am ehesten im Innern etwas erwarten. Ein soziales Christentum, in die Breite wirkend, kann aber auch in der Jugend der Städte dadurch, daß man ihr Konzentrationspunkte gibt, für die Priesterschaft wirken, sofern man es versteht, dieser Berufung eine volkstümliche, allgemeine, allseitige und vor allem sozial differenzierte Form zu verleihen. „Woher neuer Zuzug?” hatte der Artikel „Kirche in der Gefährdung” („Die Furche”, Nr. 29, vom 14. Juli 1951) gefragt und mit vollem Recht dabei gemeint: „Warum sollten deshalb heute nicht wieder fremde, diesmal holländische, irische und amerikanische Priester in Oesterreich wirken können?” Auch im Zusammenhang mit der Frage des Nachwuchses in unseren geistlichen Kulturzentren, den Stiften, ist ein gleichgerichteter Vorschlag gemacht worden („Wort und Wahrheit”, VIII. Jahrgang, Heft 11, 195 5, Seite 815). Manche Ausblicke, die diese beiden Artikel eröffneten, sind damals als viel zu pessimistisch bezeichnet worden. Und heute?

WENN IM SOMMER in Mariazell die 800-Jahr-Feier unter Anteilnahme der ganzen katholischen Welt begangen werden wird, mag dieses Jubiläum neben das Jubilate auch ein Memento setzen. Mit Glockensturm, Wiener Sängerknaben, uraufgeführten Kirchenmusiken, Kongressen, Lichterprozessionen und Pontifikalämtern allein ist der Magna Mater Austriae nicht gedankt. Der, welcher dort am Altar das Allerheiligste hebt, wartet auf Nachfolge, auf Fortsetzer seines Werkes. Einst haben Mönche die Wälder gerodet. Heute ist die Gesellschaft zu roden. Einst schrieben sie großartige Bilderhandschriften. Heute gilt es, an die Fabriktore zu schreiben. Einst rettete eine herrliche Messe des Meisters Palestrina die Kirchenmusik. Heute will die Messe bewahrt sein.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung