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Glocken über Maria Treu

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In einer erbarmungslos laut gewordenen, tempoerfüllten Gegenwart müssen wir bisweilen ganz bewußt die Stille suchen. Nicht nur, um wieder zu uns selbst zu finden, sondern im Geist mitunter auch manchen Weg zur Besinnung zu gehen, so wie er uns in diesen Tagen um das Schutzfest des heiligen Calasanz am 20. November an die Stätten des Wirkens der Piaristen zu Wien geführt hat. Dies deshalb, da von den Schulen dieser Patres des einst heiliggesprochenen spanischen Edelmannes und Jugendbildners Josef Calasanz aus unser heutiges österreichisches Schulwesen seinen Ausgang und Aufschwung genommen hat. Weithin über den so bürgerlichen Wiener Gemeindebezirk Josefstadt bis zum lärmerfüllten „Gürtel“, mit seinen breiten Autobahnen, rufen durch die morgendliche Stille eines Adventtages die Glocken der Pfarrkirche zu Maria Treu. Singen ihr Lied von den schlanken Doppeltürmen dieser wundersamen Kirche des altersgrauen Piaristenklosters, hinter dessen äußerlich so unscheinbaren Mauern unwägbare Schätze des österreichischen Kultur-und Geisteslebens gehütet wurden. Und dies seit dem denkwürdigen 16. November Anno domini 1701, seit die erste allgemein zugängliche kostenlose Schule für arm und reich von den Piaristenbrüdern des heiligen Josef Calasanz eröffnet worden ist. Vor fast genau 260 Jahren — und segensreich in ihrem Wirken bis in unsere Tage . ..

Eine fundamentale Tat ist an jenem 16. November gesetzt worden: die Männer vom Orden der „Scholarum piarum“ haben in ihrem damals noch jungen Konvent auf dem heutigen Jodok-Fink-Platz zu Wien — den aber jeder Wiener nach der hier ragenden Basilika nur „Maria-Treu“-Platz nennt — die erste wirkliche Volks-Schule eingerichtet und in deutscher Sprache zu lehren begonnen. Und seit mehr als einem Vierteljahrtausend erfüllen diese Piaristen nun diesen Lehrauftrag, den ihr Gründer ihnen einst erteilt: „Euch sind die Armen anvertraut, den Waisen sollt ihr ein Helfer sein.“

Wenn dieses wunderbare Geläut von den Türmen zu Maria Treu zur festlichen Messe zu Ehren des heiligen Calasanz rufen wird, mag ihr Lied und ihr Mahnen das Bildnis der Persönlichkeit dieses Reformators der Jugenderziehung beschwören. Er hat die ihm von Jugend auf bestimmte Sendung erfüllt, dieser Josef Calasanz, der in der spanischen Stadt Peralta de la Sal am 11. September 1556 als ein Nachfahre der einstigen Könige von Navarra in diese Welt gekommen ist. Er hätte das glanzvolle und vergnügungsreiche Leben eines jungen spanischen Adeligen jener Zeit führen können. Aber schon in ganz iungen Jahren führte ihn sein Weg über drc Studium der Rechtswissenschaften und der Theologie zu dem, was wir heute Sozialosycho-logie und soziale Fürsorge nennen. Selbstlose Betreuung mittelloser Kranker in den Spitälern, Religionsunterricht an arme, elternlos aufwachsende Gassenkinder zu erteilen, war ihm heilige Pflicht. Nach erlaneter Priesterweihe, nach Jahren seelsörgeriscben Wirkens in elenden Bergdörfern der spanischen Pyrenäen verzichtet der iunge Priester auf alle ihm angebotenen kirchlichen Würden, auf theologische Lehrkanzeln. Ja er verschenkt sein beträchtliches Erbteil und zieht nach Rom in der Überzeugung, nur dort sein geistiges und geistliches Ziel zu erreichen: Seelenhirte, Lehrer und Schützer der Armen, der verlassenen Kinder, der hilflosen Greise zu sein.

Studiert man heute aus der Literatur das Leben dieses besonderen Mannes, liest es sich wie ein aufwühlender Roman voll Spannung, Tragik und menschlicher Größe. Man muß sich in den Geist der damaligen Zeit versetzen, um ermessen zu können, welche geradezu sozial-revolutionäre Tat es war, als Josef Calasanz im Herbst des Jahres 1597 in der Sakristei der Kirche St. Dorothea in Rom eine ganz unglaublich zerlumpte, verschmutzte und verlotterte Schar richtiger römischer „Mularia“ um sich versammelt hat, um diese schon in ganz jungen Jahren in den Staub getretenen Knospen menschlicher Seelen beten zu lehren und ihnen zu erzählen vom Unterschied zwischen Mein und Dein, zwischen Lüge und Wahrheit, zwischen Treue und Trug.

Und ihnen dann Griffel und Schreibpapier, aber auch Brot und Fleisch zu geben, um den aus diesen jungen Augen sprechenden Hunger nach dem Wissen, aber auch einfach nach der Nahrung zu stillen. Man muß sich in die geistige Welt und die damalige Macht der herrschenden Lehren hineindenken, um die ganze Kühnheit zu ermessen, mit der dieser junge Geistliche Josef von Calasanz sich für den Angeklagten und verkannten Galileo Galilei eingesetzt hat. Es war Calasanz, der dem verfolgten Gelehrten Patres aus seinem jungen Orden als Sekretäre zur Verfügung gestellt hat, die auch selbst des Nachts bei ihm bleiben mußten. Nicht nur, um Galilei bei seinen Arbeiten zu helfen, sondern auch, um zur Not als Wächter zur Hand zu sein, Von den Tagen dieser innigen geistigen Beziehung zwischen Calasanz und Galileo Galilei leitet sich auch eine der großen wissenschaftlichen Traditionen des Piaristenordens her: die besondere Pflege der Physik und der Astronomie in der Ordensprovinz Toskana, wo heute noch in Florenz das größte seismographische Institut Italiens von Piaristen geleitet wird.

In Österreich hat der Orden der Frommen Schulen mit kaiserlichem Konsens im Jahre 1657 in seiner Niederlassung in Horn und etwas früher auch schon in Nikolsburg in Mähren begonnen, Knaben „aus dem niederen Volke und unadliger Abkunft der Wissenschaften und der Sprachen teilhaftig werden zu lassen“, wie ein zeitgenössischer Bericht auf vergilbtem Pergament in krauser Handschrift uns heute erzählt. Die fast schon legendäre Figur des Piaristenpaters Placidus, der am 4. Juli 1697 in geheimer Audienz bei Leopold I. den Konsens für die Niederlassung der Piaristenschule in der Josefstadt zu Wien erwirkt hat, ist der Begründer dieser eigentlichen Wiege des österreichischen Volks- und Mittelschulwesens geworden.

Man kann recht nachdenklich werden, entsinnt man sich heute an einem dämmrigen Adventnachmittag auf diesem stillen Wiener Platz vor der Kirche zu Maria Treu an all das, was hier seinen Anfang genommen. Da erzählt am Anfang der Josefstädter Straße, am heutigen Direktionsgebäude der Städtischen Gaswerke noch die Gedenktafel von jenem Marchese de Malaspina, der den Grund verkauft hat für das Kloster und die Kirche, zu der man am 2. Dezember 1698 den Grundstein im Beisein des ganzen Hoflagers gelegt wurde. Kein Geringerer als der Großmeister des frühen Barocks, Lucas von Hildebrandt, hat die Pläne dieser Kirche geschaffen. Ein Anton Maulpertsch hat die Fülle seiner Kunst in die weltberühmt schönen Deckenfresken und die in tiefer Religiosität empfundenen Altarbilder gelegt. Ihren so volkstümlich wienerischen Namen „Zur Maria Treu“ aber verdankt dieses Gotteshaus der Donaustadt dem Gnadenbild über dem Hochaltar.

Mit der Kirche, mit dem Konvent in der Josefstadt wuchsen Aufgaben, aber auch die Erfolge der Piaristen in Österreich. Den Schulen werden Internate angeschlossen, wobei im Jahr 1748 durch die Stiftung des Grafen Löwenburg das „Löwenburgsche Konvikt“ dem Josefstädter Piaristenkollegium angegliedert wird. Blättert man in den Annalen weiter, wird die Zeit Maria Theresias wach. Denn die große Kaiserin vertraut den Piaristen die Lehr- und Erziehungstätigkeit am neugeschaffenen Theresianum und an der Savoyischen Akademie an. Auch an der Wiener-Neustädter Militärakademie wird die geistige Ausbildung der künftigen Offiziere von Piaristen geleitet. Denn: „Mache Er mir nicht nur tüchtige Offiziers, sondern auch gescheite Männer aus diesen jungen Leuten!“ hat der berühmt gewordene Auftrag Maria Theresias an den ersten Akademiekommandanten Graf Kinsky gelautet. Das Soldatenhandwerk lehrten daraufhin Offiziere — in Rechtswissenschaft, Philosophie, Baukunst, Physik und Naturlehre sind die Zöglinge der dann durch Generationen für das ganze alte Österreich so bedeutsam gewesenen Bildungsstätte durch Piaristen unterrichtet worden.

Was doch das Lied der Adventglocken über Maria Treu alles uns zu singen weiß! Zeitlos dünkt uns die Melodie der erzenen Stimmen, die da vom Aufsteigen und Fliehen der Zeit künden. Auf der Wieden steht heute noch die Pfarrkirche St. Thekla, wo ebenfalls ein Piaristenkollegium eine Elementarschule hat, die sich seinerzeit zu einer Haupt- und Realschule für die ganzen umliegenden Vororte Wiens -entwickelt hat. Die Gründung der ersten Handelsschule in Österreich — sie war in einem Haus auf dem Stephansplatz untergebracht, und die künftigen Kaufleute wurden dort zum erstenmal in der Wissenschaft der Buchhaltung und der Wechselkunde unterrichtet —, ist ebenfalls ein Werk der Piaristen gewesen. Just in diesen Tagen wieder wird eifrig um manche Reformen unserer Lehrpläne an den Mittelschulen diskutiert. Das aber, was bald seit zweihundert Jahren die Grundlagen unserer Gymnasialbildung darstellt, haben zwei unvergeßliche Piaristenpatres geschaffen. Es war Gratianus Max, der Deutsch als Unterrichtsfach an den österreichischen Gymnasien eingeführt hat, dazu den gründlichen Unterricht in Geschichte, Erdkunde und Chemie. Sein Ordensbruder Innocenz Lang hingegen hat unter großen Schwierigkeiten das uns heute selbstverständlich erscheinende Fachlehrersystem an allen Unterrichtsanstalten für Mittelschulbildung durchgesetzt.

Mählich hat sich der Herbstabend über den stillen Platz um Maria Treu gesenkt, hüllen feine Nebelschleier Kirche und Kloster ein. Im Piaristengymnasium dort drüben sind einige Fenster erhellt — dort wird fleißig geprobt für eine weihnachtliche Feier. In jener Schule Österreichs, die einst berühmtgewordene Männer, wie die Mitbegründer der Wiener medizinischen Schule, Prof. Nothnagel und Prof. Hebra, den einstigen Ministerpräsidenten Schmerling oder etwa den Dichter Anton Wildgans, als Gymnasiasten ausgebildet und erzogen hat. Und dort die Kirche, in der am 29. März 1771 Joseph Haydn mit 60 Musikern sein „Stabat Mater“ zum erstenmal vorgetragen hat. Wo ein Anton Bruckner seine Orgelprüfung für die Professur an der Wiener Akademie so abgelegt hat, daß nachher der Operndirektor Herbeck als Vorsitzender der Kommission -nur ganz still sagte: ..Meine Herren, der hätte uns prüfen müssen ...“

So manchesmal sind auch die hellen Stimmen der Wiener Sängerknaben hier erklungen, gar damals, als sie noch Hof-Sängerknaben hießen, und viele Jahre lang von den Piaristen erzogen worden sind. Musikalisch und geistig... So war denn auch die geistige Formung des Sänger-knaben Franz Schubert ein Beitrag dieser Patres Piaristen zum ersten jugendliche Schaffen des späteren Liederfürsten.

Hoch steht der Himmel über der Stadt. Hinter ziehenden Wolken blinken da und dort Sterne hervor und geben hier auf eng umzirktem Platz das Gefühl, daß da draußen weithin das Land sich breitet. Es sind die gleichen Sterne, die über den anderen Stätten des Wirkens der Piaristen in Österreich stehen. Ob dies nun das Konvikt zu Krems, nahe der so malerisch über der alten Wachaustadt ragenden Piaristenkirche ist, oder die Schulstadt Horn. Wo heute wieder eine große Anzahl jugendlicher Studenten betreut wird, neben dem angesichts der Anforderungen der heutigen Zeit an den viel zu geringen Nachwuchs der Ordensprovinz. Ihm gilt die besondere Sorge des Ofdens, der vor mehr denn 300 Jahren in unser Land gekommen, seit mehr als einem Vierteljahrtausend entscheidend mitgestaltet am Profil Österreichs und so vieler seiner bedeutenden Menschen ...

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