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GLUCK DER ZURCKGEZOGENHEIT

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Man fragt 'uns: Langweilt ihr euch hier niemals? Unsere Besucher fragten, es, wenn sie nach langer Fahrt durch verlassene Dörfer auf Gebirgsstraßen oberhalb felsiger Täler endlich diese Oase erreicht hatten. Sie besichtigten das weiträumige Haus, gingen ein wenig spazieren, betrachteten den flammenden weiten Horizont und wandten sich dann zu uns: Langweilt ihr euch hier niemals? Lag es daran, daß wir ruhig waren? Oder daran, daß man weder Musik noch Wagen hört — nur zwei oder drei am Tag, langsame Insekten auf der fernen Straße zwischen den Eichen — noch ein anderes gewohntes Geräusch?

Sie hatten eben nicht die Stille walten lassen. Sie hatten sich noch nie Zurückgezogenheit, Nachdenklichkeit und Einsamkeit gewünscht, wonach wir fast körperlich hungerten.

Dieses Haus in den Bergen, das wir jedes Jahr in den Ferien ruhig und vertraut am Ende der breiten Zufahrtsallee wiederfanden, war ein Himmelsgeschenk.

Es kostete Mühe, dahinzugelangen: Man mußte bis Avi-gnon, in Hitze und Gedränge aussteigen und sich in einen kochendheißen Autobus setzen. Aber dann verließ der Wagen die Ebene des Comtat, klomm leicht und wendig die kurvenreiche Straße aufwärts, und schon hörte der Lärm auf, dieser Lärm, der uns das ganze Jahr hindurch gehindert hatte, uns selbst zu hören... Die wenigen Reisenden schwiegen. Man hörte nur noch von Zeit zu Zeit vor gefährlichen Biegungen die Signale des Wagens, die im ganzen Tal widerhallten. Zwanzig Kilometer Einsamkeit, zwanzig Kilometer ständigen Steigens auf öliger Straße durch helles Gestein. Hie und da auf der Schulter des Berges ein paar Felder und geduckt unter sein aprikosenfarbenes Ziegeldach, geschützt von der Felswand, ein Bauernhaus.

Endlich ist die kleine Stadt erreicht, der Marktplatz mit dem murmelnden Brunnen und der riesigen Platane, die dem Wagen wohltätig ihren Schatten schenkt. Die Hirten aus Piemont laden ihre Kisten ab, auch Schachteln und ein Moped; der Herr Pfarrer begrüßt seinen Mitbruder, die Kaufleute stecken ihren Kopf durch den Perlenvorhang und die Boulespieler dort unten halten einen Augenblick inne. Am Ende der schmalen Gasse, zwischen den hohen gedrängten Häusern, bleicht der Abend schon am Himmel. Es ist kühl. Wir stopfen uns in das einzige, alte, bequeme, keuchende Taxi. Dann kriecht das Gefährt durch schütteren Eichenwald über die Hochebene. Es wird dunkel, große Schatten hüllen das Land ein. Niemand.ist auf der Straße, als,, der bärtig, Bauer mit der schimmernden Sichel auf der. Schulter.

Ich erinnere mich an den ersten Abend, an den frischen Geruch des nahen Brunnens, an die drei Fenstertüren auf die schwach erleuchtete Terrasse hinaus, an den Salon, in dem eine einzige Petroleumlampe brannte, wo von der Tapete blaue Pfauen uns mit spitzen Blicken ansahen und wo uns die „Dame“ empfing. Es war ein Märchen, aber wir haben es erlebt.

Das Gebäude mit seinen gewundenen Gängen, die zu Zimmern führen, wo Koffer voll alter Krinolinen und geblümter Röcke aufgestapelt sind, mit der niedrigen Küche, den Kaminen, Schränken und Truhen und mit seinen Fenstern, die weit das Land überblicken, dieses große Haus nahm uns schon am nächsten Morgen in sein Geheimnis auf. Langsam ging man darin umher, mit einer Art scheuer Achtung.

Draußen winden sich magere Mandelbäume zum Himmel. Lavendelfelder entrollen ihren dichten Samt. Neben der Quelle stehen Zedern vom Libanon, in ihrem Schatten blüht ein Rosenstrauch. Wie sehr sprach dort der Meßtext vom 15. August zu unseren Augen und Herzen!

Wie sehr gewannen wir an jenem Ort Kraft und Mut zurück! Das gehetzte Leben der Stadt, Telephon, Zusammenkünfte, Besuche, Tätigkeiten aller Art machen aus unserem Heim dort eine Drehscheibe, wo unsere Existenzen zusammenlaufen wie Züge und man rasch und pünktlich sein muß. Aber bald folgt der Spannung die Verkrampfung, die Nerven lassen aus, und die Türen krachen unsanft Ins Schloß. Soviel ist an jedem Tag zu tun, daß man nicht Zeit hat, die Unordnung des Vortages aufzuräumen. Ich weiß wohl: Man darf sich nicht unterkriegen lassen. Wenn es soweit ist, sollte man sich irgendwo niedersetzen, auf die nächste Treppenstufe zum Beispiel, um Atem zu holen. Man sollte ganz langsam sprechen, ein wenig überlegen, einander umarmen und erst dann wieder weitermachen. Aber solche allzu kurze Rast genügt nicht. Auch denen, die von Geldgier frei sind, benagen vielerlei Aufgaben und Pflichten die Zeit. Es ist nötig, manchmal fortzugehen, in der Sonne zu ruhen, in der Einfachheit eines alten Hauses, in der Freundschaft der Bäume, es ist gut, auf die Lehre des im Wechsel immer gleichen Horizontes zu hören und eine unbegrenzte Landschaft nicht öde zu finden.

Wer solche Einkehr wagt, muß eine gewisse Erfahrung haben. Alles hat seine Zeit. Manchen schenkt der Umgang mit den Menschen Erholung und Entspannung. Junge Eheleute — diese großen Kinder! — würden sich vielleicht langweilen. Doch für jene, die das ganze Jahr über sich tatkräftig und brüderlich verausgabt haben — welche Gelegenheit, Bilanz zu machen und neue Kräfte zu sammeln! Lernen wir es von der Schöpfung, um es den anderen besser weitergeben zu können. Ferien, „Vakanzen“ — nein. Es sind keine Vakanzen, keine leeren, unnützen Tage. Wer die Trunkenheit der. Arbeit kennt, dem ist die Leere unerträglich.

Liebe ist nicht Unbewegtheit, im Gegenteil. In totaler Ruhe würde sie erstarren. Aber im Rasten, im Innehalten gewinnt sie ihr Gleichgewicht zurück und damit die Möglichkeit, immer wieder über sich selbst hinauszugehen. So sprechen wir also lieber von Einkehr als von Vakanzen, von Ferien!

Langweilt ihr euch nicht? Nein, denn die Tage sind nicht monoton. Sie sind zu ihrer Fülle gelangt und gleichen uns ihrem Rhythmus an. Ihr Friede, ihre Stille lassen uns das Glück der Liebenden wiederfinden. Dieses Glück stützt ich auf die geringsten Dinge, und diese Dinge werden uns im Schöpfungslicht geboten.

Wir wandern miteinander unter den Fichten das ausgetrocknete Bett des Wasserfalls entlang, die Grillen verkünden den nahen Mittag, die Bäume segnen uns mit dem Schatten ihrer gefalteten Zweige. Lustig werfen die Eichhörnchen die leeren Zapfen herunter, und vor uns steigt langsam der Boden an, um sich mit den Konturen anderer Hügel zu vereinen, unter einem Himmel, auf dem die Wolken, kaum geboren, sich wieder auflösen. Schweigend so dahinwandern und dabei die Wunder des Schöpfers nennen, eines nach dem anderen: Ist das nicht die beste Art, die Welt von neuem zu entdecken?

Oft wohl läßt uns solche Rast das Vergehen der Zeit grausam erscheinen. Jedesmal, wenn wir wieder in den fleckigen Spiegel der Konsole im Salon blicken, finden wir uns gealtert. Aber dann zeigt uns das Viereck der großen offenen Tür ein Stück mittägliche Welt und den Platanenzweig, dessen handgleiche Blätter uns bedeuten: Es ist schön, alles ist noch möglich, und der kleine rote Hase dort unten in der Wiese, der im Zickzack den Schmetterlingen nachjagt, ist unsere Letztgeborene. Die Liebe schenkt uns das größte Glück: Zu glauben, alles sei möglich. Wenn uns auch unsere Lebensumstände jedes Jahr fester umklammern, wenn wir auch immer die gleichen Probleme ungelöst wiederfinden, die gleichen immer wiederholten Fehler und die gleiche Bedrängnis, weil unsere Unvollkommenheit uns immer bewußter wird...

Aus dem im Herold-Verlag erschienenen Buch „Glückliche Menschen“ von F. Weyergans. Deutsche Übertragung von Hennen v. Kleeham

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