Martin Walser - © FOTO: APA/dpa/Felix Kästle

"Ein liebender Mann" von Martin Walser: Goethe, brillenlos

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Martin Walsers jüngster Roman erzählt eine berührende Geschichte über Liebe im Alter, über Goethe und Ulrike von Levetzow.

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Martin Walsers jüngster Roman erzählt eine berührende Geschichte über Liebe im Alter, über Goethe und Ulrike von Levetzow.

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Nach Fertigstellung seines neuen Buches, so mutmaßte ein Kritiker, habe Martin Walser den "wunderbaren Befehl" Suchen/Ersetzen gefunden und alle Walser-Nennungen mit Goethe überschrieben; so sei aus einem Roman über Walser einer über den glücklos verliebten alten Geheimrat geworden.

Tatsächlich regt sich leicht Misstrauen, wenn alternde Großschriftsteller sich ans literarische Ausschlachten ihres klassischen Vorgängers machen, daran ist schon Thomas Mann gescheitert. Doch im Unterschied zu Walsers letzten Romanen "Der Augenblick der Liebe" (2004) und "Angstblüte" (2006), mit denen "Ein liebender Mann" das Sujet "alter Herr verliebt in sehr viel jüngere Frau" teilt, hat Walser hier Peinlichkeiten erspart und eine berührende Geschichte geliefert. Eigentlich ist daraus mehr eine Studie zur Ökonomie der Liebesarbeit unter dem Diktat der tickenden Lebensuhr geworden, denn eine bloße Paraphrase auf des alten Goethe letzte Liebe zur 54 Jahre jüngeren Ulrike von Levetzow.

Im Zeichen des Augenspiels

Martin Walser ist immer, auch in den deutlich daneben gelungenen Romanen, ein Meister des Erzählauftakts, den es genau zu lesen lohnt. Hier eröffnet er mit einer Blickbegegnung und stellt den ganzen Roman ins Zeichen des Augenspiels. Da hat der alte Goethe schlechte Karten. Kurzsichtig aber eitel, lehnt er das Tragen einer Brille ab, natürlich nicht ohne dafür mit großer Geste eine Theorie zu entwerfen. Sie steht im "Wilhelm Meister" und Walser zitiert sie ausführlich herbei: Apparative Hilfen, so Wilhelm, führen leicht zu Selbstüberhebung, sind also charakterschädigend.

Wie rückwärtsgewandt Weltsicht und Werthaltungen seines Wilhelm sind, lernt Walsers Goethe durch die kecke Ulrike bzw. durch die neue Sicht auf die Wirklichkeit, die ihm die Liebe aufzwingt. Brillenlos kann der Kurzsichtige jedenfalls die Geliebte im Vorbeifahren nicht erkennen. Das blicklenkende Motiv der Augen(schwäche) stellt ohne Worte die Frage in den Roman-Raum: Was sieht der alte Goethe, wenn er Ulrike sieht? Und beantwortet sie wahrheitsgemäß: das ist egal, die Liebesarbeit nimmt, einmal aufgenommen, ihren unaufhaltsamen Lauf. Wie man aus dem Literaturunterricht weiß, mündet der in diesem speziellen Fall in der "Marienbader Elegie". Da sie dem Roman inkorporiert ist, kann man dieser lyrischen Hommage auf das Liebesleid hier mit Muße neu begegnen.

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