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Goethe zwischen Eidos und Realität

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Friederike Brion. Von Friedrich List. 31 Seiten. Preis 3.80 DM. — Goethes Begegnung nit Napoleon. Von Edwin Redslob. 80 Seiten. Preis 5.80 DM. Aus der Schriftenreihe „Goethe-Zeit und Goethe-Kreis“, herausgegeben von Friedrich List und Hans Kaesser

Die Methode beider Schriften ist Georg Simmeis philosophischen Monographien über Rembrandt, Goethe, Michelangelo usw. verpflichtet (was Friedrich List selber vermerkt). Sie verknüpft nicht nur die Gestalten der Kunst mit den Gestalten der Geschichte des Dichters oder Künstlers, sondern läßt die Gestalten der persönlichen Geschichte zum „Gleichnis“ werden, das mit den Gestalten der Kunst nicht nur verschmilzt, sondern in sie sich erfüllt. Das persönliche Leben in seinen Begegnungen wird zum objektiven Ur-Gleichnis, und dieses objektive Ur-Gleichnis ist dann der objektive Dichter im subjektiven Dichter seiner Gestalten. In dieser Methode, die List bewußt durchführt, während Redslob sie rein faktisch befolgt, vereinigen sich die zwei gegensätzlichen Methoden einer Literaturwissenschaft: die Welt einer Dichtung oder Kunst rein als persönliche Konfession zu nehmen (wie Goethes Welt gemeinhin genommen wird), oder sie als eine objektiv in sich schwingende Seinswelt zu sichten, getrennt von allem Biographischen (wohin die Literaturwissenschaft der George-Schule zielte). Die synthetische Methode beruht auf der eigenen Metaphysik Simmeis: daß das „Leben“ als „Akt“ im „Strömen“ jeweils sich zu seinshaften „Inhalten“ kristallisiere, die zwar in einer relativen Selbständigkeit dem „Leben“ gegenüberstehen, aber aus ihm stammen und in es zurückmünden, so daß sie zuletzt nur aus dem „Leben“ erdeutet werden können.

In diesem Sinn ruht für List alles Motiv der Liebe in Goethes Dichtung in der Korespondenz zwischen, der Frühliebe zu Friederike Brioti und der Spätliebe zu Ulrike von Levetzow, während zwischen beiden das „Gleichnis“ sich in Goethes Dichtungen gestaltet. Das „Gleichnis“ erscheint demnach einerseits als persönlich-biographischer „Drang“, zwischen Verlust der Frühliebe und dem Traum ihrer Wiederauferstehung in der Spätliebe. Es ist der Drang, in dessen Kraft sich alle Zwischenlieben notwendig relativieren; da sie das vorgegebene Maß der Frühliebe nicht erfüllen. Anderseits aber ist gerade dieser „Drang“ es, der die „Liebe“ in Goethe aus allem persönlich-biographischen Geschehnis in die Sphäre des „Gleichnis“ über sich hinaus transponiert: von Gretchen zu Helena, zu Iphigenie, zur Mater Dolorosa. Fs w'rd die besondere Gestalt der Frau in Goethe sichtig: reale Frau, die immer neu geflüchtet wird, daß aus der Ungenüge an ihr die „ideale Frau“ sich erhebe. Der „treulose Liebhaber“ Goethe (im Symbol der Frühliebe) und der „abgewiesene Liebhaber“ (im Symbol der Spätliebe) erscheinen wie als Vorbedingung im Raum des „Lebens“ für den

„Platoniker des Eidos Frau“ — Eidos Frau, das eben darum keine Realisierung kennt.

Die Begegnung mit Napoleon, i der Redslob mit großer Genauigkeit wie mit durchschauendem Blick nachgeht, könnte das Entsprechende bedeuten: Realität Mann und Eidos Mann. Wenn das Wort Napoleons über Goethe lautete „Voilä, un homme“, „Sieh“, ein Mensch“, so kann man daran denken, daß im Französischen „homme“ das einzige Wort für „Mann“ ist. Der Frau im französischen Denken ist

„ainour“, Liebe, zugeordnet, dem Mann die „Humanität“. Hier rührt man an die andere Seite in Goethe: daß alles praktische und dichterische Wirken für ihn eigentlich nur dem einen diente: in sich selbst eine harmonische Universalität des „Menschlichen“ darzustellen. Sagte der Kaiser eines politischen Universalreichs zu ihm also. „Sieh“, ein Mensch“, so mußte dgs für Goethe eine kongeniale Bestätigung dafür sein, daß es ihm gelungen sei, ein universal Menschliches geistig in sich darzustellen. Wir finden hier wieder das Merkwürdige des „Drang“. Nur begibt es sich hier zwischen dem „shakespeareschen Goethe“ und dem „Olympier“. Beide meinen das „universal Menschliche“. Beide realisieren es nicht: der „shakespearesche Goethe“ nicht, weil er vor der Uebermacht der shakespeareschen universalen Menschlichkeit zuletzt flüchtet — der „Olympier“ nicht, weil sein Olympisches zum „Musealen“ des „Herrn Geheimbderat“ sich vergespenstert. Wie er im Anfang die Mann-Menschlichkeit Shakespeares floh, so flieht ihn im Ende die Mann-Menschlichkeit des Olympischen. Aber eines bleibt (was Napoleon sah): das Erscheinen eines „Eidos“ des „Homo universalis“, des universal Mann-Menschlichen, in der Realität des Goethe, der sie real nur im „Drang“ hat zwischen zwei gescheiterten Formen eines Universal-Mann-Menschlichen. Wir haben die gegebene Entsprechung zum Goethe der „Frau“. Wie in Goethes Dichtung das „Eidos Frau“ erscheint um den Preis seines realen Scheiterns an der Frau, so hat sich der Goethe der „universalen Mann-Menschlichkeit“ als Eidos hinauf gedichtet um den Preis des realen Scheiterns an seiner eigenen universalen Mann-MenSchlichkeit.

Erst hierin wird Goethe voll Symbol: Symbol für den Typus des „Deutschen“, wie ihn Karl laspers ungewollt, aber scharfsichtig getroffen hat: der immer neu Transzendierende im realen Scheitern.

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